Fontane, Cécile, meine Mutter, ihr Knie und ich – Tag 1

Unsere Reise startet um 7:31 Uhr auf Gleis 13 des Berliner Hauptbahnhofes und kaum sind wir im Zug, muss sich die Staatsgewalt in Form von vier Polizisten der Macht der Platzreservierung beugen und unsere Plätze räumen, das stimmt mich schon ein wenig versöhnlich mit der Uhrzeit. Jedoch denke ich wehmütig an die Arnauds, die in der relativen Abgeschiedenheit ihres Compartements die Fahrt genießen können, wohingegen wir mit viel zu fröhlichen und vor allem viel zu kommunikativen Müttern das Abteil teilen müssen. Wir trösten uns damit, dass es nur anderthalb Stunden sind, bis wir in Magdeburg in den HEX umsteigen dürfen. Allerdings fällt mir bei der Fahrt durch Berlin eine kleine Ungereimtheit auf, Susanne Leiste-Bruhn begründet die Abfahrt der Arnauds am Potsdamer Bahnhof damit, dass sie ganz in der Nähe, Am Hafenplatz, wohnen, dem widerspricht jedoch die Schilderung dessen, was das Paar aus dem Zugfenster sieht. Es fährt vorbei an Siegessäule und Zoologischem Garten, speziell an den Elefantenhäusern, die man allerdings nur sieht, wenn man der Strecke vom ehemaligen Lehrter Bahnhof folgt, der heutigen Stadtbahn. Dem entspricht auch die Strecke auf dem Streckennetzplan von 1910: Um nach Magdeburg zu fahren, muss man in einem der Bahnhöfe, die auf der Stadtbahn liegen, zusteigen. Da stellt sich mir die Frage, warum Fontane so ein vermeintlicher Fauxpas unterläuft. Meine Deutung: Cécile ist ein Berlin-Roman, obwohl man sich zunächst aus Berlin verabschiedet, sollen sowohl der Leser als auch die Arnauds mit starken Berlin-Bildern auf die Reise geschickt werden.
Wie dem auch sei, bis auf fünf Minuten Verspätung, die uns zwischen Hauptbahnhof und Wannsee ereilen (Wie?), ist die Fahrt erfreulich ereignislos, so dass wir pünktlich 10:23 Uhr in Quedlinburg aus dem Zug steigen. Begrüßt werden wir von strahlendem Sonnenschein und tropischer Hitze, ganz wie die Arnauds, das soll, laut Wetterbericht, auch die ganze Woche anhalten.
Es folgt Ernüchterung. Dank der Privatisierung der Nebenstrecken sind wir an recht heruntergekommenen Bahnhöfen vorbeigefahren, Quedlinburgs macht da leider keine Ausnahme. Wir können die Bahnhofhalle zwar betreten und bekommen auch einen Eindruck der ehemaligen „Pracht“, jedoch deprimiert dieser unnötige Zerfall uns so sehr, dass wir schleunigst das Weite suchen und hoffen, dass die Stadt diesen ernüchternden Auftakt wieder wett machen kann.

Von weitem ist der Bahnhof aber hübsch anzuschauen. Foto: Franz Schorr

Wir werden nicht enttäuscht, schon der Bahnhofsvorplatz besticht durch hübsche Beete, so dass wir beschließen, unsere morgige Expedition nicht in der Bahnhofshalle zu starten (die Wahrscheinlichkeit, dort ein Himbeerwasser zu bekommen, geht gegen Null), sondern vom Vorplatz. Zügig schlagen wir den Weg zu unserem Hotel ein, damit wir unser Gepäck abwerfen und uns in den Gassen Quedlinburgs verlieren können, denn der Weg zum Hotel begeistert mich schon so sehr, dass ich es kaum abwarten kann, den Rest zu sehen. Der „Alte Fritz“ enttäuscht nicht, es ist genauso urig wie versprochen und noch viel charmanter als gedacht, allein die knackenden Treppen und verwinkelten Zimmer lassen Fontansche Stimmung aufkommen. Vom Gepäck befreit, steuern wir den Markplatz an und suchen die Touristeninformation, denn ich möchte meine Vorstellung von dem Weg, den die Reisegesellschaft zum Schloss eingeschlagen hat, gern von hiesigen Fachkräften verifizieren lassen. Der gute Mann hat zwar noch nie was von „Cecile“ und Fontane gehört, meint aber, dass der Weg entlang der Bode sehr reizvoll sei und der Beschreibung, die ich ihm dank Fontane liefern kann, dem jetzigen Zustand doch recht nahe komme. Enchantiert ob dieser Erkenntnis, werde ich sogleich mit der nächsten Enttäuschung konfrontiert, das anvisierte Mittagessen im Ratskeller des entzückenden Rathauses kann leider nicht stattfinden, da der Ratskeller leider nicht mehr bewirtschaftet wird.

Vor verschlossener Tür! Foto: Franz Schorr

Auch dieses Phänomen wäre es wert, genauer untersucht zu werden, jedoch nicht heute und nicht von mir. Auf diesen Schreck haben wir erst einmal eine kleine Kaffeepause im Marktcafé eingelegt, uns mit einem Stück Torte belohnt, dem Treiben auf dem Markt zugeschaut und die Schönheit des Marktplatzes genossen. Nach dieser Stärkung erkunden wir weiter die Altstadt, über die Steinbrücke, die eigentlich eine Straße ist, mit einem Kringel zu St. Blasii, einer entzückenden kleinen Kirche, die zwar Barock anmutet und urkundlich das erste Mal 1222 als Dorfkirche erwähnt wird, jedoch in Teilen romanischen Ursprungs ist und auf das 10. Jahrhundert datiert werden kann.

Endlich Ruhe beim Beten! Foto: Franz Schorr

Besonders entzückend ist, dass die Gläubigen in kleinen Boxen sitzen, die einzige Erklärung dafür, zumindest für mich als mitbürgergeplagten Großstädter, ist, dass die Quedlinburger in der Kirche gerne ihre Ruhe vor nervigen Mitgläubigen hatten.
Auf dem Weg dahin kreuzen wir ein Schild, von dem wir lernen, dass der Markplatz 994 von der ersten Äbtissin, Mathilde, angelegt wurde und noch im selben Jahr ihr Neffe, Otto III., am 23.11.994 Quedlinburg das Marktrecht verlieh und somit der ersten Schritt gemacht wurde, aus einer Kaufmannssiedlung eine Stadt zu machen – es geht doch nichts über die richtigen Connections, das hat sich auch nach gut 1000 Jahren nicht verändert.

An dem Fachwerkhaus mit dem Backstein ist das Schild angebracht, das auf den sagenhaften Ort hinweist. Foto: Franz Schorr

Kurz darauf schlendern wir durch Zufall am sagenumwobenen Finkenherd vorbei, an dieser Stelle soll dem Sachsenherzog Heinrich die deutsche Krone angeboten worden sein. Die Kaiserkrone haben sich erst seine Nachfahren, die diversen Ottos erworben. Früher soll hier eine mächtige deutsche Eiche gestanden haben, jetzt steht hier ein entzückendes Fachwerkhaus.
Nach so viel Kultur fordert nun auch der Hunger sein Recht: Wie sich das für Quedlinburg gehört, kehren wir in die landestypische Tapasbar „Schillers“ ein und nach einer gemischten Tapasplatte und zwei Aperol Spritz treten wir langsam den Heimweg durch das nächtliche Quedlinburg an. Wir stoßen dabei noch auf ein weiteres Schild, das uns sehr erheitert, und zwar die Erklärung, warum die Hohe Straße, die vermutlich älteste Straße Quedlinburgs, ihren Namen erhalten hat – sie liegt nämlich höher als der Markt. Offensichtlich war man, was die Namensgebung angeht, im Mittelalter eher pragmatisch.  Wir kreuzen Teile der Stadtmauer und -befestigungen, die, wie alles hier, sich äußerst pittoresk in das Stadtbild einfügen, ein Turm wurde zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Wohnhaus umgebaut; von den acht Stadttoren sind leider aber nur die Namen erhalten, was uns aber nicht weiter anficht, denn unseren Weg und die Gassen beleuchtet ein immer voller werdender Mond.

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