Einer aus Neuruppin – über Erich Arendt

Einer aus Neuruppin

Auf dem Fontane Blog wurden im Laufe der Jahre allerhand Texte veröffentlicht, die sich mal mehr und mal weniger mit Theodor Fontane beschäftigten. Verbindungen wurden hergestellt durch Städte, die Fontane kurz besuchte, durch Orte, die in seinen Romanen von Bedeutung sind, durch Fragen, was bedeutende Schriftsteller:innen an Fontanes Geburtstag umtrieb. Diese Reihe lässt sich mit Fontanes Geburtsstadt fortsetzen: Neuruppin. Die Stadt, die so stolz Fontanes 200. Geburtstag feierte, die auf ihrer offiziellen Homepage neben seiner auch drei weitere Persönlichkeiten anpreist: Karl Friedrich Schinkel (Architekt), Ferdinand Möhring (Dirigent) und Eva Strittmatter (Autorin).

Das ist allerhand und doch nicht ganz vollständig. Beziehungsweise fehlt in dieser Auflistung einer, der weitaus länger in Neuruppin lebte als Fontane. Die Rede ist vom 1903 geborenen Schriftsteller und Übersetzer Erich Arendt – dem Kind eines Gärtners, der ebenfalls in Neuruppin geboren worden war und dort sein Leben verbracht hatte, der später zum Schuldiener der Neuruppiner „Höheren Töchterschule“ (Wichmannstraße) werden sollte. Peter Böthig gibt in seinem kurzen Essay „Erich Arendt und Neuruppin“ die Kind- und Jugendzeit des Lyrikers anschaulich wider.

Als wichtige Markierungspunkte im Erwachsenwerden Arendts macht Böthig den frühen Tod seines jüngeren Bruders und das Leben in einer Kellerwohnung unter dem Lyzeum aus: „Dunkel, kalt und feucht war es – so klamm, dass der jüngere Bruder Erichs, der gerade zweijährige Siegfried, nach gut einem Jahr im Keller starb.“ (Böthig, S. 8) Über diese Erfahrung gibt ein teilweise autobiographischer Essay Arendts Auskunft. (Dazu Böthig u. Arendt: Gedichte – Essay – Gespräch) Die gesundheitlichen Folgeschäden (vor allem an der Lunge) begleiteten Arendt beinah lebenslänglich.

Ab 1909 besuchte er die heutige Puschkinschule, ging nach der achten Klasse ab und ließ sich in mehreren, insgesamt sechs Jahre andauernden Seminaren zum Lehrer ausbilden. 1923 stand er am Ende dieses Bildungsprozesses, hatte zwischenzeitlich erste Kontakte zu Kunst- und Kulturszenen aufgenommen und mit Begeisterung Texte der jüngsten Generation deutscher Lyriker:innen des Expressionismus gelesen: allen voran diejenigen von August Stramm.

Veröffentlichungen im Sturm

Porträt-Stele Erich Arendts in Neuruppin von Wieland Förster, Foto von Maria Döring

Nach dem erfolgreichen Abschluss des Lehrerseminars unternahm Arendt erste Reisen. Fortan bezeichnete er sich als „Vagant“. Das Reisen, ganz besonders in den „Süden“, bestimmte sein Leben wie sein Schreiben. Nach seiner Rückkehr fand er erst keine Arbeit als Lehrer, praktizierte als Hilfsredakteur der Märkischen Zeitung und „als Zeichner in der Theatermalerei und Fahnenfabrik ‚Paul Gollert‘ in der Knesebeckstraße 16c (heute Seeufer)“. (Böthig, S. 16) Erst 1925 zieht Arendt nach Berlin, Neukölln.

Vorher aber reichte er erste Gedichte bei der von Herwart Walden herausgegebenen Zeitschrift Der Sturm ein. Die expressionistische und avantgardistische Zeitschrift, von Walden und Alfred Döblin begründet, hatte bereits klangvolle Namen wie Max Brod, Karl Kraus oder Selma Lagerlöf gedruckt. Für die Veröffentlichung der Arendtschen Verse hatte sicherlich die Ähnlichkeit zu August Stramm gesprochen. Schon jenen hatte Walden gefördert und publiziert. Ein Gedicht wie „Kühe“ kann dies illustrieren:

Kühe

Voll Erde
weißer Morgen
das Horn senkt die Nacht
Gewölk
brüllt aus wilden Tagen
die Himmel bleich
und
Glotzen Dumpfen Sterben
urt dunkler Mond
die Sterne blähen
Blicke
grünes Gras
und brüllen
stummes Sterben
weiße Augen
nach (Arendt: Werke, Bd. 1, S. 37)

Arendt hielt viel später (1970) auf Anfrage einer Leserzuschrift öffentlich fest, dass die Sturm-Gedichte zum größten Teil in Neuruppin geschrieben worden waren. (Vgl. Böthig, S. 17)

Vagantenleben

Mit diesen biografischen und poetischen Prägungen verließ Arendt seine und Theodor Fontanes Geburtsstadt. In Berlin konnte er erst 1930 sein zweites Lehrerexamen ablegen und eine feste Stelle erlangen. Zwischenzeitlich engagierte er sich politisch, schloss sich den Kommunisten an, trat mehreren sozialistischen Gruppierungen bei (bspw. der „Internationalen Arbeiterhilfe“) und gründete selbst eine (den „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“). 1933 musste Arendt jedoch aus Berlin fliehen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er „im Hinblick auf seine politische Unzuverlässigkeit aus dem Schuldienst entlassen“. (Vgl. u. zit. nach Böthig, S. 17ff.)

Seine Exilzeit verschlug ihn und seine sogenannte „halbjüdische“ Frau Katja geb. Hajek über die Schweiz nach Spanien, wo er am spanischen Bürgerkrieg teilnahm und Verse wie die folgenden hinterließ:

Lied unser Kämpfer

Wir waschen wieder mit unserem Blut
Die Schande von deinem Gesicht
Deutschland!
Wir machen mit unserem Einsatz gut,
Was der deutsche Henker verbricht.

Wir, die nach Spanien kamen,
Zu helfen, zu schützen,
Retten den deutschen Namen. (Arendt: Werke, Bd. 1, S. 216)

Die Zeilen artikulieren eine Differenz – zwischen einem „deutschen Henker“ und einem Wir, das den „deutschen Namen“ versucht zu retten. Arendt trat 1937 einer Armee-Division (der Internationalen Brigade) auf der Gegenseite des von den Nationalsozialisten unterstützen Fransisco Franco bei, positioniert sich damit dezidiert auf Seiten des Wir. 1939 verschlug es das Ehepaar nach Frankreich, wo Erich Arendt mehrmals interniert wurde und erst 1941 fliehen konnte.

Handschrift Arndts, Quelle: Umschlag Rückseite der Kritischen Erich Arendt Werkausgabe Bd. 2

Der Weg führte die Arendts über den Atlantik nach Kolumbien, wo sie über zehn Jahre lebten. Reisen in die angrenzenden Länder sowie die Karibik prägten ebenso wie die sich verschärfende politische Lage Kolumbiens – seit 1946 tobte ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen – die poetische Sprache Erich Arendts. Sein 1956 in der DDR erschienener Gedichtband Tolú. Gedichte aus Kolumbien versammelt die Texte dieser Zeit. Der nach dem kleinen Fischerdorf Tolú benannte Band wird mit folgendem Gedicht eröffnet:

Indiogötter

Aughöhlen, aufgerissen in granitener Leere:
Giganten heben ihren Blick vom Steppenrand.
Aus den entblößten Zähnen dringt die Schwere
erdalten Schweigens bis zum Dach der Andenwand.

Der Tag der bittren wilden Nesseln legt oft seine
glutharten Lippen auf die Stirn, die Grauen sinnt.
Ein greiser Dorn, erhoben aus dem Urgesteine,
steht das Geschlecht dem Gotte zeugungslos im Wind.

Mondwolken streuen Aschen auf den Mund der Steppe,
wenn Lava aus des Kraters offner Wunde fließt.
Licht Stern und Donner brechen die Gewesenen nicht.

Mit toten Augen sehn sie, nun die Nacht sich schließt,
durch schwarzes Gras die Indios ihre Armut schleppen,
voll Trauer und granitener Schwere das Gesicht.
(Arendt: Werke, Bd. 1, S. 225)

In die tradierten Form des Sonett zwängt Arendt eine exotische Welt, die dem:der europäischen Leser:in unbekannt angemutet haben dürfte. Eine doppelte Perspektive wird auf diese Welt gerichtet. Einerseits sind es die titelgebenden „Indiogötter“, die „durch schwarzes Gras“ das Volk, das sie anbetet, sehen. Andererseits überblickt die lyrische Instanz beide: die „Indiogöttern“ und die „Indios“. Der Kontrast zwischen den Göttern – versinnbildlicht durch Gezeiten (Licht, Stern, Donner) und überzeitliche Konstanten (Andenwand, Urgestein) – und den Menschen – verknüpft mit Armut und Trauer – wird gerahmt vom Bild der „granitenen Schwere/Leere“, die Götter und Menschen eint.

Durch dieses Gedicht wird ein Raum geöffnet und ein Thema festgelegt. Die schicksalhafte Verbindung von Göttern und Menschen, die sich fremd und doch ähnlich sind, bestimmt die folgenden Gedichte des Zyklus. Die letzte Strophe des Poems „Steppenritt“ mag beispielhaft für den Ton dieser Verse stehen, der klagend und von dunkeln Vokallauten geprägt ist.

Wenn aus dieser Nacht, sagten wir, die Feuer sich lösten
und tilgten dies Dorf und die Steppe und auch uns mit:
es wär wie Erlösung! – Wir ritten unter dem sternenentblößten
Himmel des Zorns, fluchend, weil unser Herz am größten

hier seine Ohnmacht litt. (Arendt: Werke, Bd. 1, S. 255)

Dabei muss erwähnt werden, dass Arendt gehäuft in diesem Band das N-Wort gebraucht. Es gilt, dies zeithistorisch zu kontextualisieren und die Intention der Gedichte zu bedenken.

Berlin-Ost, Griechenland, Hiddensee, Wilhelmshorst

1950 kehrten die Arendts aus ihrem „Exil“ nach Deutschland zurück – nach Ost-Berlin. Erich Arendt verdiente seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller, indem er zum Einen seine in den letzten 20 Jahren entstandenen Gedichte in mehreren Bänden veröffentlichte, zum Anderen Übersetzungen aus dem Spanischen anfertigte – vor allem von den Werken Pablo Nerudas. Schon 1952 war ihm der National-Preis der DDR III. Klasse verliehen worden. Spätestens 1959 mit dem Band Flug-Oden hatte er endgültig nationale Berühmtheit erlangt.

Dieser Status erlaubte es ihm und seiner Frau mehrere Reisen durch Europa zu unternehmen, insbesondere Griechenland wurde zum hervorragenden Zielort. Die Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur und Mythologie fand erst in Foto- und Reisebänden seinen Ausschlag – später, 1967, in dem Gedichtband Ägäis poetische Spuren (vgl. dazu vertiefend Peschken).

Mit diesen Gedichten beginnt Arendts Spätwerk, das „entscheidend von Melancholie, Trauer und Resignation geprägt“ ist (Nachbemerkung, Arendt: Werke, Bd. 2, S. 404). Die Abkehr vom „Prinzip Hoffnung“ (ebd.) erklärt sich an der Biografie Arendts. Hatte er bislang sein politisches Engagement, seinen Aktivismus, sein Schreiben einer universal-sozialistischen Weltsicht verschrieben, gab ihm die restriktive DDR-Politik nach den persönlichen Erlebnissen in Deutschland, Spanien und Kolumbien keinen Grund mehr, dem Prinzip Hoffnung anzuhängen.

Die Gedichte des Ägäis Bandes schlagen einen neuen reduzierteren und fokussierteren Ton an.

Orphische Bucht

Für Peter Huchel

Meergerandet, groß
um den Felsen, stet
und stet, das weiße Auge
blickt. Die fühlbare Ferne.
Die Haut. – Möglich
alles: Im
Schnittpunkt, weither, der Sekunde
eine Welle von Eisen.
Knirscht.

Wurzelstumm
dein Tag, rede, Berg,
Eulenflucht aus der Zeit
an deiner Stirn.
[…]

So wirf,
              dein Netz,
blutrot, durchs Licht, das
der Schrei grauen Salzes
speist: Auf Welle
und Stein offen die
Maske des Worts:
                                   morgen die
schreckende Stille. (Arendt: Werke, Bd. 2, S. 16f.)

Gegenüber einer nicht mehr klar erkennbaren inhaltlichen Struktur gewinnen typographische und lautliche Stilelemente sowie die Interpunktion an Bedeutung. Ein Vers wie „Knirscht.“, ein Wort, ein Geräusch, vermag nicht mehr auszusagen als sich selbst, doch schafft er Zusammenhänge, beispielsweise zur zweiten Strophe „an deiner Stirn“, wenn der {scht}-Laut wiederholt wird. Die Widmung an Peter Huchel verweist außerdem auf einen weiteren Dichter und Freund Arendts.

Huchel, der 1963 nach erscheinen seines Bandes Chausseen, Chausseen in der DDR mit einem Veröffentlichungsverbot belegt wurde, hatte Arendt als Chefredakteur der Literaturzeitschrift Sinn und Form in den 50er-Jahren gefördert. (Vgl. zur Beziehung der beiden Wieczorek) 1971 verließ Huchel Ostdeutschland und überließ Arendt, seinerseits ebenfalls unter Beobachtung der Staatssicherheit stehend, sein Haus in Wilhelmshorst. Dort und auf Hiddensee waren die Rückzugsorte Erich Arendts in dessem letzten Lebensjahrzehnts.

Fortan ließ ihn seine Arbeit am Vers nicht mehr los. „Die Unvollendbarkeit des Gedichts“ wurde zum „poetologischen Kern“ seiner Dichtung. (Nachbemerkung, Arendt: Werke, Bd. 2, S. 404) 20 bis 60 Neufassung eines Poems belegen seine intensive Arbeit. Seine letzten vier Gedichtbände tendieren daher auch ins Hermetische, wie das Gedicht „Frühlingsaster“ aus dem letzten Band entgrenzen (1983) verdeutlicht:

Frühlingsaster

„das meiste nämlich
vermag die Geburt“
Hölderlin

Letzte Gründe, dunkel
hinter den Augen

aufgeht dennoch
im Fleisch
Geheimes

innen bewimpert

du willst ich will
(blütenoffen)

es sein.

Sie fischen aber
aus dem Fluß
die geopferte
Lieblosigkeit

Tod. (Arendt: Werke, Bd. 2, S. 344)

Und Fontane?

Porträt-Stele Erich Arendts in Neuruppin von Wieland Förster, Foto von Maria Döring

Ein Jahr nachdem diese Verse veröffentlich wurden, stirbt Erich Arendt im Alter von 81 Jahren. Begraben wurde er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Berlin. In Neuruppin jedoch erinnerte zu dieser Zeit nichts mehr an den Dichter. Erst 2007 konnte nach jahrelangem Bestreben im Anschluss an die 100-Jahr-Geburtstagsfeier Arendts ein Ehrenmal errichtet werden. Nicht unweit vom Theodor-Fontane-Denkmal steht eine Porträt-Stele Erich Arendts, gefertigt vom Bildhauer und Schriftsteller Wieland Förster. (Vgl. Abbildung u. Böthig, S. 22)

Bleibt noch die Frage: und Fontane? Gibt es wirklich nur diesen einen Bezugspunkt – Neuruppin – der beiden Schriftsteller zweier Jahrhunderte? Eine ähnliche Frage hatte Heinz Czechowski in den 70er-Jahren Arendt gestellt. Dessen Antwort ist im Hinblick auf sein Leben aufschlussreich:

Aber am Ende der Stadt, dem Luch zu, da war ein Denkmal, da saß einer in Bronze, den Schlapphut neben sich gelegt: Fontane. […] Er hat in meinem späteren Schreiben nichts bewirkt, er war aber für mich doch eine Welt, die entgegen der Kleinbürgerlichkeit dieser Stadt Neuruppin stand. Insofern bedeutete sein Dasein in Bronze schon eine Befreiung. (zit. nach Böthig, S. 19)

Nachklang

KALT UM MICH
unten der tanz

der oben am berg
zum letzten mal
heiß macht
die glieder

und
wiederkommt
ihr bleiches gesicht
das auge
ferngelenkt

ich hatte
die rissige lippe
schwarze flocken drauf
kußlos
geweckt

nun
die undurchlöcherte
wand

ich wußte es nicht
ich war ins alter gestorben

ich rief
in ihr
in träumen gebündeltes
herz

ich rufe ich

rief (Arendt: Werke, Bd. 2, S. 335)

 

Literatur

  • Arendt, Erich: Gedichte – Essay – Gespräch. Originalaufnahmen. Mit einer autobiografischen Erzählung gelesen von Christian Brückner. Potsdam 2003. (CD)
  • Arendt, Erich: Kritische Werkausgabe. Hg. von Manfred Schlösser. Bd. 1: Gedichte 1925-1959. Bd. 2: 1960-1982. Berlin 2003.
  •  Böthig, Peter: Erich Arendt und Neuruppin. Frankfurt (Oder) 2008. (Frankfurter Buntbücher Nr. 44/45)
  • Büttner, Maria: Nachwort, Festschrift, Widmung.
    Erich Arendt und die „Mittlere“ Autorengeneration der DDR
    in den 1960er und 1970er Jahren. Dresden 2015.
  • Gedächtnis- und Textprozesse im poetischen Werk Erich Arendts. Hg. von Nadia Lapchine, Françoise Lartillot, Martin Peschken u. Stefan Wieczorek. Bern u.a. 2012.
  • Peschken, Martin: Erich Arendts Ägäis. Poiesis des bildnerischen Schreibens. Berlin 2009.
  • Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur H. 82/83 (Juli 1984). (Schwerpunkt: Erich Arendt)
  • Wieczorek, Stefan: Erich Arendt und Peter Huchel. Kleine Duographie sowie vergleichende Lektüren der lyrischen Werke. Marburg 2001. (Teilweise hier veröffentlicht)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert