Das Novellenfragment „Oceane von Parceval“ und die Fontane-Oper

Diskussion im Literaturhaus Berlin

In jeden Winkel des Berliner Kulturlebens scheint der Name dieses Jahr gekrochen zu sein. Überall, wirklich überall lese ich FONTANE. Folglich war ich nicht allzu überrascht, als ich von der „Fontane-Oper“ erfuhr. Meine Musikalität hält sich sehr in Grenzen. Auch mit musiktheoretischen Fragestellungen kenne ich mich gar nicht aus. Umso glücklicher erschien es mir, als ich auf die Veranstaltung „200 Jahre Theodor Fontane. Wie entsteht ein Libretto?“ am 4. April 2019 im Literaturhaus Berlin aufmerksam wurde. An diesem Abend kamen sowohl Musik- als auch Literaturliebhabende zusammen, um diese interessante Schnittstelle genauer zu beäugen. „Denn vielleicht möchte man zum Fontane-Jubiläum mal etwas anderes tun, als nur Fontane lesen“ – so leitete Janika Gelinek in die Veranstaltung ein. 

Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße

Am 28. April 2019 wird die Oper OCEANE – komponiert von Detlef Glanert – an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Hans-Ulrich Treichel lieferte hierzu das Libretto, frei nach Fontanes Novellenfragment „Oceane von Parceval“ (datiert auf das Jahr 1882). Im Literaturhaus Berlin kamen Treichel, Glanert und der Chefdramaturg Jörg Königsdorf zur Diskussion zusammen. Die Fragen stellte Fanny Tanck. Warum auch immer, aber für Glanert war kein Platz auf der ausreichend großen Bühne vorgesehen. Er saß, mit einem Mikrofon bestückt, in der ersten Publikumsreihe und wurde angehalten jeder Zeit intervenieren zu können.

Novellenfragment Oceane von Parceval

Glanert habe die Stoffgrundlage vorgeschlagen. Treichel sei ungemein erleichtert gewesen, dass es sich hierbei nicht um einen Fontane-Roman handelte, sondern um ein Fragment. Er schmunzelte: „Denn seien wir mal ehrlich, die Originalität und die Nominalkomposita der Konversationsromane, Fontanes stilistischer Duktus sind nicht unbedingt opernfreundlich.“ Wenn man eine sehr, sehr lange Oper komponieren wollen würde, ja – dann solle man einen Fontane-Roman nehmen, ein einziges Tischgespräch wäre doch schon abendfüllend. Das Fragment habe ihn daher umso mehr gereizt, es sei ein wahres Freudenfest für Philologen und ebenso reizvoll für die Oper, da es Lücken, Interpretationen und den gewünschten Platz für Musik schaffe. Königsdorf erklärte hierauf, dass mit einem bekannten Fontane-Text wie „der Effi“ das Haus leicht vollzubekommen wäre. Ein unbekanntes Fragment zu nehmen, biete somit immer Risiken, sei allerdings wesentlich reizoller.

Das – nur wenige Seiten umfassende – Fragment beginnt mit den Worten: „Tendenz (allgemein mit modernem und romantisierendem Ausflug.)“; ebenso wird das Geschehen in Heringsdorf lokalisiert. Ein Ort, an der Schwelle zum Meer. Eine dichotome Struktur von Natur- und Kulturräumen tut sich auf. Die maritime Sphäre, die mit den gesellschaftlichen Festivitäten, dem anskizzierten Ball zusammentrifft, liefert vielerlei Implikationen. Auch in der Oper spiele das Meer eine dominante  Rolle. Der Chor habe eine Doppelfunktion, sei  Gesellschaftselement und das Meer. Als Naturelement verfüge der Chor über keine Worte, nur über Laute. Für mich wird an dieser Stelle deutlich, wie eng Narration, Text und Komposition miteinander verwoben sind. Zwei Jahre habe man allein an der Schaffung des Szenarios gearbeitet, irgendwann im dritten Jahr – erklärte Treichel – wurde dann das Libretto durchgeschrieben, allerdings gab es wohl bis zu fünfzehn Versionen. Der Text stehe im stetigen Zusammenhang zur Komposition. Treichel stellt heraus, dass seine Arbeit am Libretto erst ein Ende fand, als die letzte Note von Glanert geschrieben wurde.

Eine moderne Melusine?

Als Fanny Tanck fragte, was die Oceane denn für ein Wesen sei, hob Treichel verschmitzt die Augenbrauen und betonte: „Nunja, ich bin ja auch Germanist, also allgemein zur Melusine … sie ist eine Wasserfrau, von amphibischer Natur.“ Ist Fontanes Oceane also eine klassische Melusine oder Undine? Prompt, prägnant und plötzlich sprang Glanert, der sich natürlich nicht auf seinem angewiesen Platz im Publikum halten konnte, auf. Er ließ – nicht korrigierend, nein keines Falls, nur erweiternd, wie er bemerkte – seine Worte einfließen. Er schien die Sonderrolle zu genießen, gleichsam den Überraschungseffekt auszukosten, den es bereitete, wenn er sich unerwartet erhob. Glanert bemerkte, dass die Oceane im Eigentlichen keine klassische Melusinengestalt, sondern eine modernisierte Form sei. Man habe sie befreit, von diesem ganzen „Märchenkrams“ und ihre Probleme in ein anderes Umfeld transportiert. Das Gefühl der Entfremdung von der Wirklichkeit spiele eine prägnante Rolle, Oceane wolle sich einreihen in gesellschaftliche Konzepte und Konventionen, aber könne es nicht. Zwei Grundkonzepte stoßen aufeinander, die unvereinbar seien und genau dies könne in der Oper – in aller Zuspitzung – ganz wunderbar gezeigt werden.

Die Diskussionsrunde – der stehende Glanert fasziniert das Publikum.

Eine Art handlungs- und stimmungsskizzierende Exposition des Fragments lässt eine Atmosphäre erahnen, mit dieser Glanert und Treichel (weiter)arbeiteten:

Es giebt Unglückliche, die statt des Gefühls nur die Sehnsucht nach […] dem Gefühl haben und diese Sehnsucht macht sie reizend und tragisch. Die Elementargeister sind als solche uns unsympathisch, die Nixe bleibt uns gleichgültig, von dem Augenblick an aber wo die Durchschnitts=Nixe zur exceptionellen Melusine wird, wo sie sich einreihen möchte in’s Schön=Menschliche und doch nicht kann, von diesem Augenblick an rührt sie uns. Oceane von Perceval ist eine solche moderne Melusine. Sie hat Liebe, aber keine Trauer, der Schmerz ist ihr Fremd, alles was geschieht wird ihr zum Bild und die Sehnsucht nach einer tieferen Herzens=Theilnahme mit […] den Schicksalen der Menschen […] wird ihr selbst zum Schicksal. Sie wirft das Leben weg, weil sie fühlt, daß ihr Leben nur ein Schein=Leben, aber kein wirkliches Leben ist. Sie weiß, daß es viele Melusinen gibt; aber Melusinen, die nicht wissen, daß sie’s sind, sind keine; sie weiß es, und die Erkenntniß tödtet sie.

Im Fragment heißt es „Nomen est omen“. Über Oceane wird gesagt: „Der Vater baute damals eine Brücke. Und den Tag wo die Brücke fertig war, wurde das Kind geboren und sie nannten sie Ocenane. Und sie sagten, daß welche von den Meerweibern Gevatter gestanden habe.“ Doch ganz in Fontanischer Manier, wird die Glaubwürdigkeit dieser Aussage sogleich dialogisch kontrastiert: „Ich würd‘ alles glauben, wenn ich nicht die Ehre hätte, die Frau Mama zu kennen. Sie über[…]hebt mich alles Wunderglaubens und erklärt alles auf die wunderbar einfachste Art.“ – Klingt fast wie eine programmatische Sentenz des poetischen Realismus. 

Ein Sommerstück für Musik

Der Untertitel der Opfer lautet „Ein Sommerstück für Musik“. Auf die Frage, warum dies so ist, antwortete Treichel: „Na weil’s im Sommer spielt … und es ist vertont worden.“ – Allgemeines Schmunzeln im Publikum. Doch sofort sprang auch Glanert wieder auf seine Beine und erklärte, dass der Untertitel seine Idee gewesen sei, er habe an Christa Wolfs Sommerstück denken müssen, genau diese Anspielung soll beim Lesen mitschwingen. Er lächelte. Das Publikum lächelte. Er setzte sich und die nächste Frage wurde an Treichel gestellt: „Was leben Sie rein schriftstellerisch im Libretto aus?“ Besonders angenehm sei für ihn die Schaffung eines Libretto, da man nicht isoliert arbeite. Das Libretto sei ein stetiger Kommunikationsprozess, ein Gemeinschaftswerk, ein verschlungener Dialog von Musik und Wort. Darum müsse der Librettist nicht nur seinen Stil finden, sondern auch seinen Ton.

Treichel – wie ich nun weiß; Germanist und ehemaliger Privatdozent –  würde sich, so schmunzelte er, mit der im Fragment skizzenhaft beschriebenen Figur des Dr. Felgentreu identifizieren. Dieser ist „Privantdocent mit drei Zuhörern“ und hat „so viel Edda etc. gelesen, daß er mitunter in einem rhapsodischen Ton verfällt und in Alliterationen spricht.“ Bei solch amüsanten Figurenskizzen werde ich gleich etwas wehmütig, dass all dies nur Fragment geblieben ist. Doch genau die unausgeführten Andeutungen, Bruchstücke laden zum Weiterdenken und Phantasieren ein, unweigerlich möchte man die Lücken füllen. Ich verstehe, warum dieses Fragment so wohlwollend als Grundlage für die Oper genutzt wurde. Ein Stoff, der geradezu herausfordernd wirkt, wenn es an einer Stelle schlicht und einfach heißt: „Oceane singt.“

Am Ende des Abends konnte mich vor allem der stetig aufspringende Mann an seiner Faszination teilhaben lassen, man kann auf den 28. April gespannt sein! Ebenso sehr wusste mich – mal wieder – Fontane zu faszinieren, durch dieses Freudenfest für Philologen, dieses Fragment, dass mich freudig und wehmütig zugleich werden lässt …

und dann war es als ob Wellen tanzten. Waren es Wellen? Wohl, wohl, was sonst. Oder war es ein Delphin. […] Der Tag ging, ein anderer kam, Oceane war fort. In ihrer Briefmappe fand sich ein Brief, an den Helden adressiert: „Ich geh fort. Es war doch recht, das mit dem Elementaren. Es fehlte mir etwas für die Erde, dessen ich bedarf, um sie zu tragen. Ich hatt‘ es nur gefühlt; als ich Dich sah, wußte ich es. Ich geh‘ nun unter in dem Reich der Kühle, daraus ich geboren war. Aber auch dort die Deine. Oceane.“

 

Zitiert wurde nach: Theodor Fontane: Fragmente. Erzählungen, Interpretationen, Essays. Im Auftrag des Theodor-Fontane Archivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen. Band I. Texte. Berlin/ Bosten: de Gruyter 2016.

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