„Fontanes einzige und letzte Oper“? – Gedanken einer Literaturstudentin

Du schilderst ja Oceanen als ob sie jenen zugehöre von denen die Jungfrau sagt: „die nicht lachen, die nicht weinen“ oder als sprächest Du von den Elfen von Elvershöh […]

Möglich, daß sie von ihnen abstammt, wenigstens stammt sie aus demselben Lande, wo der Ritter über die Heide ritt. Und ihre Erscheinung straft dieser Abstammung nicht Lügen. Und wirklich sie hat etwas Elementargeistartiges, sie sieh nur an, und sie heißt nicht umsonst Oceane.

Fontane, Der Fischer und freudige Erwartungen

Programmheft der Oper „Oceane“ und eine Ausgabe der Berliner Zeitung

Eines der zahlreichen Novellenfragmente Theodor Fontanes erregte in den letzten Wochen größere Aufmerksamkeit. Das umfangreichste „Melusinen-Fragment“ Oceane von Parceval (datiert auf 1882) scheint seit der Uraufführung von Oceane an der Deutschen Oper Berlin vermehrt im Feuilleton aufzutauchen. Besonders bravourös wurde die Komposition Detlef Glanerts besprochen. Das Fragment ist – für mich – auch durch seine intertextuellen Verweise interessant. Wunderbar beiläufig werden diese bei „Badeleben-Scenen“ im Gespräch integriert und weben das Fragment in einen literarischen Motiv- und Themenhorizont ein. Auf die Melusinen-Thematik wird angespielt, sie wird kontextualisiert und unterlaufen. Bürgers Lenore (1773) wird erwähnt, ebenso wie Goethes Fischer (1778).

Ich hatte Freude daran, mir auszumalen, wie ein fertiger Dialog hätte aussehen können, und mich in Lücken, Andeutungen, literarischen Querverweisen und Satzfetzen zu verlieren. Auch die vermuteten musikalischen Qualitäten ersann ich mir in Vorfreude. So durfte ich gespannt und etwas nervös am 28. April bei der Uraufführung der Oper im Publikum sitzen. 135 Minuten wurde der Musik gelauscht. Schlussendlich gab es stehende Ovationen. Ich konnte mich diesen nur halbherzig anschließen. Als Literaturstudentin und „Wortmensch“ war ich primär auf den Text des Librettos fokussiert. Ich fragte mich, wie wohl der Wechsel von einem narrativen Modus des Fragments zu einem dramatisch-musikalischen umgesetzt werden würde? In meinen Gedanken nistete sich Glanert ein, der in einer Veranstaltung im Literaturhaus Berlin dem Librettisten Hans-Ulrich Treichel ein ungemeine Affinität zur Lyrik attestierte. Gar poetische Erwartungen bezüglich des Librettos wurden in mir erweckt.

„Im Geiste des großen Realisten?“

In einer Besprechung der taz heißt es: „Fontane selbst hat seine Idee nie ausgeführt, aber der Germanist und Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel griff sie auf und entwickelte aus dem Fragment einen überaus wirkungsvollen Text im Geiste des großen Realisten.“ Man habe versucht „Fontanes einzige und letzte Oper zu schreiben“. Hieraus stellt sich mir die Frage: Wie viel Fontane steckt in der Fontane-Oper, und ist diese wirklich im „Geiste des großen Realisten“ zu sehen – wie Nicklaus Halblützel betont?

Die Oper beginnt mit geschlossenem Vorhang. Ein zunächst schemenhafte, verschwommene Videoprojektion eines grau, weißen Frauenkopfes, der nach und nach an Schärfe gewinnt, dominiert die ersten Minuten. Ihr Auge wird bedrohlich heran gezoomt. In der Pupille: das rauschende Meer. Der Hausdiener Georg ist traurig, dass die Lampions kaputt sind. Bedrohung, Endzeitstimmung, Verfall, Fin de Siècle? Die Handlung wurde um ein paar entscheidende Jahre versetzt. Aus dramaturgischen Gründen – um diese noch kontrastreicher, noch existentiell bedrohlicher wirken zu lassen. Die 1880er Jahre bilden nicht mehr den temporalen Rahmen. In der Oper tritt Oceane kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in ein heruntergewirtschaftetes Hotel ein. Mutmaßungen werden über die schöne, fremde Frau ausgetauscht. Oceane tanzt ekstatisch, ungezähmt. Sie ist der Skandal des Balls.

Im Interview mit Jörg Königsdorf, welches im Programmheft nachzulesen ist, betont Glanert:

Man muss bei der Transformation eines Fontane-Stoffes zur Oper natürlich die Zeit und die Gewohnheiten der Zeit abstreichen. Fontane hat sehr viele Gespräche und Konversationen, das muss alles weg.

Auf den „Ton“ Fontanes wurde somit keinen Wert gelegt. Es entspricht natürlich aller Notwendigkeit, dass man einen Text – hin zu einem Opernlibretto – bearbeiten und damit in gewisser Hinsicht reduzieren muss. Bei all den Kontraktionen, Akzentuierungen und Zuspitzungen bedarf es Fingerspitzengefühl, um ein gekonntes Substrat oder eine dynamische Neuinterpretation entstehen zu lassen. Ich war etwas enttäuscht. Treffend formuliert Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mein Unbehagen:

[D]er Pfarrer Baltzer, mit kernigem Bass und scharfer Diktion gesungen von Albert Pesendorfer, setzt der seltsamen Frau zu: „Jemand, der so fern von den Menschen ist, der mehr ein Tier ist und fern von Gott, der sollte nicht gebären.“ Dieser schwarzbeseelte Pfarrer, auch musikalisch sofort als Lichtschlucker eingeführt, hat mit der lebensweisen Milde, der wohltemperierten Weltfrömmigkeit Fontanescher Pastorenfiguren wenig zu tun. […] Doch im virtuosen Umgang mit Stereotypen […] geht dem Komponisten das Gefühl für dramatische Proportionen, für psychologische Zeit verloren. Die Figuren entwickeln sich kaum, sie werden als fertige – vokal sehr prägnant geformte – Physiognomien hingestellt, ohne dass ihre Umschwünge musikalisch immer hinreichend motiviert scheinen.

Weiße Oceane – graues Kollektiv

Aus dem Programmheft…Pfarrer Baltzer singt „bedrohlich“ auf Oceane ein.

Eine weiß glitzernde Oceane wird in scharfer Opposition zu der anthrazitgrauen Gesellschaft gestellt. Unantastbar. Ästhetisch. Graphisch. Schön. In jeglicher Hinsicht konträr. Diese Formation ändert sich nicht, vermischt sich nicht: Es wird auf Statik und Abgrenzung gesetzt, statt den nuancierten Implikationen, die durch Fontanes Polyphonie nicht klar zu strukturieren oder zu definieren sind, Raum zu geben. In dem Fragment sorgt das vielstimmige Reden über die Protagonistin dafür, dass bloße, konträre Linien nicht haltbar sind – auch, wenn man die anskizzierten narrativen Fäden weiterspinnen möchte. So können die aufeinander treffenden Sphären von Natur und Kultur dargestellt werden, sind allerdings im selben Zuge zu hinterfragen, zu differenzieren. Fontane’sche Figuren erwachsen aus gesellschaftlichen Anforderungen, aus Rollenerwartungen eines kulturellen Systems. Schwankend zwischen Typus und Individuum, Originalcharakter. Besonders die Frauenfiguren wissen sich einer Handlungsohnmacht ausgesetzt, gestiftet von aufoktroyierten Normen, unter denen zu agieren ist. Doch dies heißt nicht, dass die Gesellschaft und Oceane – in aller Komplexitätsreduktion – unvereinbar aufeinanderprallen müssen, dass reine Stereotypen aus vielschichtigen Figuren herausgeschält werden, um sie als Hüllen ihrer selbst singen zu lassen.

Mir fehlte eine gewünschte Tiefe. Ich vermutete zuvor, dass gerade hier ein dialogisches Für und Wider – ein ausgeklügelter Perspektivismus – die Figuren zum Glänzen und „zum Klingen“ hätte bringen können. Die überspitze Darstellung des gesellschaftlichen Kollektivs zum „fremdenfeindlichen Mob“ – wie es Brachmann treffend formuliert – stellt wohl die bedrohliche Stimmung kurz vor dem Ersten Weltkrieg dar, ist hoch dramatisch, vielleicht angsteinflößend. Man würde nur noch den „Zauberberg’schen Donnerschlag“ erwarten. Ob die Umsetzung „im Geiste des großen Realisten“ steht, bleibt zweifelhaft. Ebenso anzuzweifeln ist Glanerts Aussage, wenn er im Interview sagt: „Ich behaupte ja immer noch in der Figur der Oceane habe [Fontane] mehr oder weniger seine Tochter porträtiert.“ Dass man mit solchen Behauptungen sehr vorsichtig umzugehen habe, muss nicht betont werden…

Wortmensch bleibt Wortmensch?

Das Fontane-Buch, Ausgabe von 1921

Ja, vielleicht war ich beim Studieren des Fragments zu euphorisch, vielleicht hatte ich nicht zu erfüllende Erwartungen: Einen Text Fontanes für eine Oper umzugestalten und dabei „das Fontane’sche“ zu gewährleisten? Ich weiß nicht, ob dies möglich ist. Hier ist es erst gar nicht versucht worden. Wer sich nun für das Fragment interessiert, kann es in der De Gruyter-Ausgabe nachlesen, kann entdecken, phantasieren und sich am Duktus des „großen Realisten“ erfreuen. Das Melusinen-Motiv taucht des Öfteren in Fontanes Œuvre aufMelusine von Barby aus Der Stechlin ist wohl die bekannteste Namensträgerin. Neben Oceane von Parceval sind zwei weitere Melusinen-Fragmente bekannt, wobei die Oceane das ausgearbeitetste darstellt. Es ist ebenso eines der wenigen, die relativ früh der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Ernst Heilborn, welcher im Kontakt mit Friedrich Fontane stand, veröffentlichte es schon 1919 in seinem Fontane-Buch, das – für den heutigen neugierigen Leser – relativ erschwinglich antiquarisch erworben werden kann!

Oceane, wie sie wunderschön und allein – gleich Caspar David Friedrichs Mönch – auf der Bühne, am wogenden Meer steht, wird mir wohl sehr lange und einprägsam in Erinnerung bleiben.

Die Oper wurde vom Deutschlandfunk Kultur aufgezeichnet und wird am 15. Juni 2019 ab 19:05 Uhr eben dort zu hören sein. Ich werde ganz bestimmt mit geschlossen Augen der Musik lauschen, nicht allzu sehr auf den Text achten und versuchen, mich von den Erwartungen, die das Fragment in mir schürte, zu befreien – und den Wortmenschen Wortmensch sein zu lassen.

Sie gehen am Strand. Seewind. Die Wellen gehn und rufen und mahnen. Er macht ihr eine leidenschaftliche Liebeserklärung. Sie ist bestürzt, hingerissen. Sie weint. „Ach dieses Glück weinen zu können.“ Und sie sank an seine Brust. Und sie gingen weiter in gehobener Stimmung und nebenan gingen die Wellen und riefen und mahnten und klagten und jubelten.

 

Zitiert wurde nach: Theodor Fontane: Fragmente. Erzählungen, Interpretationen, Essays. Im Auftrag des Theodor-Fontane Archivs hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen. Band I. Texte. Berlin/ Bosten: de Gruyter 2016.

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