Theodor Fontane und die Bahnen (2)

Eine verkehrsgeschichtliche Würdigung zum 200. Geburtstag des Dichters

Zu Teil 1.

„Ich spreche natürlich von der Stadtbahn.“

Was wäre Berlin ohne die Stadtbahn? Das wurde während der S-Bahn-Krise ab 2009 deutlich: Die Stadtbahn ist unverzichtbar. Schon Bau, Eröffnung und erste Betriebsjahre beschäftigten seinerzeit die Berliner – und auch Fontane. Die Stadtbahn war damals ein verkehrstechnischer Quantensprung für Berlin. Während der 1880er Jahre prägten noch Pferdebahnen und -fuhrwerke den Verkehr auf den Berliner Straßen. Davon unabhängig durchquerten die Dampfzüge mit damals neuartigem Tempo auf ihrer Viaduktstrecke die Stadtmitte zwischen Ost und West. Auch Fontane erkannte den Stellwert der Stadtbahn für die neue Reichshauptstadt.

Überall Leben und Luxus. Aber die neueste Wandlung, die Berlin erfahren hat, ist doch die größte, deshalb die größte, weil sie nicht diesen oder jenen Punkt, am wenigsten aber schon bevorzugte Punkte aufs neue bevorzugt, sondern weil sie dem Ganzen eine neue Physiognomie gegeben hat. Ich spreche natürlich von der Stadtbahn … In langem Staunen sah ich die Stadtbahn entstehn. Ich sah sie mit ihren kerbungsreichen Bogenviadukten wie eine riesige Raupe über die Hauptstadt kriechen.[1]

Fontanes Sympathie für die Stadtbahn widerspiegelt sich auch in mehreren seiner Romane, die in Berlin handeln. Verschiedene Romanfiguren fahren mit der Stadtbahn, man redet über diese sensationell neue Verkehrsverbindung, oder die „Bogenviadukte der riesigen Raupe“ kommen als Kulisse der Handlung ins Bild.

Fontane am 29. Mai 1854

So auch im Stechlin. Haupthandlungsort des Romans in den Jahren 1894/95 ist zwar der den Titel gebende geheimnisvolle, glasklare See bei Neuglobsow, doch etliche der handelnden Personen sind mit der Reichshauptstadt eng verbunden. Woldemar von Stechlin, Sohn des alten Majors Dubslav von Stechlin, ist Rittmeister im Ersten Garde-Dragoner-Regiment, dessen Kaserne – heute Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg – vor dem Halleschen Tor liegt. Bei einem Besuch im Hause der befreundeten gräflichen Familie Barby zeigt Woldemar ein gewisses Interesse an Armgard, der jüngeren der beiden Barby-Töchter. Als Melusine, die ältere Barby-Tochter, einen Familienausflug zum „Eierhäuschen“[2] im Plänterwald vorschlägt, sagt Woldemar gern zu. Man nimmt aber nicht den Zug, sondern wegen der in diesem Falle günstigeren Verbindung das Dampfschiff. Trotzdem kommt die Stadtbahn zunächst ins Blickfeld, denn man besteigt das Dampfschiff an der Jannowitzbrücke.

Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flußseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den sich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette (Grundrissform im Festungsbau) hatte. Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechsel vorüber, aber in Front aller dieser der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erst als man die zweitfolgende Brücke passiert hatte, traten die Stadtbahnbögen so weit zurück, daß von einer Ufereinfassung nicht mehr die Rede sein konnte…[3]

Hier gerät die Stadtbahn etwa in Höhe der heutigen Schillingbrücke für Dampferfahrgäste zwar aus dem Blick, aber wir bleiben doch noch kurz mit Woldemar, Melusine und den anderen auf dem Schiff, um uns durch die Fahrt noch einen flüchtigen Eindruck über die damalige Situation des Spreeufers zu verschaffen und mit den aktuellen Verhältnissen vergleichen zu können.

…statt ihrer (der Ufereinfassungen) aber wurden jetzt Wiesen und pappelbesetzte Wege sichtbar, und wo das Ufer kaiartig abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren dies die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten.[3]

Dass diese zwanglose Dampferfahrt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen einer neu gezogenen und streng bewachten „Staatsgrenze“ hier unmöglich würde, konnte Fontane nicht ahnen. Zwischen Schillingbrücke und Landwehrkanal-Mündung war die Spree fast drei Jahrzehnte lang ein Grenzfluss und für zivile Dampferfahrten gesperrt. Eine spektakuläre Ausnahme gab es in den frühen Morgenstunden des 8. Juni 1962: Das luxuriöse Fahrgastschiff „Friedrich Wolf“ der Ost-Berliner „Weißen Flotte“ durchfuhr, vom Treptower Hafen kommend, die Ringbahn- und die Elsenbrücke und brach dann mit 13 Flüchtlingen an Bord unter dem Beschuss der DDR-Grenzer zum West-Berliner Ufer durch. Eine lange vorbereitete, gelungene Flucht. Heutzutage geht das aber wieder mit den unbehelligten Dampferfahrten in diesem Bereich der Spree! Nur am Nordufer erinnert die legendäre East Side Gallery mit Original-Mauerteilen und kultischer Bemalung an vergangene Mauerzeiten.

Die Ausflugsgesellschaft aus dem Stechlin-Roman war bei der Passage dieses Spreeabschnitts damals keiner Gefahr ausgesetzt. Sie erreicht in heiterer Stimmung Treptow und das Eierhäuschen ohne jegliche Behinderung. Für die Rückfahrt nimmt man wieder den Dampfer bis Jannowitzbrücke. Um den hauseigenen Kutscher zu später Stunde nicht unnötig bemühen zu müssen, nutzt die adlige Ausflugsgesellschaft für die restliche Nachhausefahrt natürlich – die Stadtbahn.

Die beiden Damen, die an der Jannowitzbrücke zur Dampferfahrt starten, sind vermutlich nicht Melusine und Armgard aus dem Roman „Der Stechlin“. Aber ansonsten passt die Abbildung zu der Romanszene. Man beachte den Stadtbahnzug auf dem Viadukt, die Pferdebahn und den Doppeldeck-Pferdeomnibus auf der Brücke.

Die Stadtbahn kommt im Stechlin nochmals ins Bild: Die gut situierten Barbys wohnen am Kronprinzenufer. Es ist damals eine vornehme Adresse, die heute unmittelbar vor dem Bundeskanzleramt läge. Gräfin Melusine Barby weiß die komfortable Lage ihrer Wohnung zu schätzen und gegen den Wohnsitz der befreundeten Baronin Berchtesgaden zu verteidigen. Deren (durchaus ebenfalls exklusive) Wohnlage am Tiergarten in der Lennéstraße habe aber

„…keinen Blick ins Weite, kein Wasser, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn ich in unsrer Nische sitze, die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und sehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigranwerk der Ausstellungsparktürmchen schimmert, was will Ihre grüne Tiergartenwand dagegen?“ Und dabei wies die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug, und die Baronin gab sich zufrieden.[3]

Die hier erwähnten „Ausstellungsparktürmchen“ standen westlich des Lehrter Bahnhofs auf dem Universum-Landes-Ausstellungs-Park (ULAP). Auf dem Gelände hatte Werner Siemens während der Berliner Gewerbeausstellung im Jahre 1879 die erste elektrische Lokomotive vorgeführt. Allerdings entstand das von der Gräfin erwähnte Ausstellungsgebäude erst einige Jahre später, und es waren auch keine „Türmchen“, sondern eine hochmoderne, technisch respektable Glas-Stahl-Konstruktion. Auf dem ULAP-Gelände fanden bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg verschiedenste Ausstellungen statt, zuletzt beherbergte es die „Deutsche Luftfahrt-Sammlung“. Nach Kriegszerstörungen blieb das im Grenzbereich zwischen West- und Ost-Berlin liegende Gelände jahrzehntelang vernachlässigt und kaum bebaut. Heute beklagt das Bezirksamt Mitte auf dem ULAP-Gelände ein Problem mit illegalen Obdachlosencamps. Inzwischen zieren aber auch neuartige Hotel- und Büroquader mit Schießschartenfenstern das Gelände westlich des Berliner Hauptbahnhofs.

Im Hause der Barbys am Kronprinzenufer verkehren außer Woldemar von Stechlin auch dessen Kameraden: Reserveoffizier von Rex und Hauptmann von Czako. Man trifft sich hier zu geselligen Gesprächsabenden. Was dort über Politik, Kultur und aktuelle Ereignisse debattiert wird, muss hier nicht erzählt werden. Doch Rex und Czako interessieren uns, weil sie damals statt der individuellen Droschke, die gestandenen preußischen Militärs zustände, den ÖPNV bevorzugen.

Die Abende bei den Barbys schlossen immer zu früher Stunde. So war es auch heute wieder. Es schlug eben erst zehn, als Rex und Czako auf die Straße hinaustraten und drüben an dem langgestreckten Ufer Tausende von Lichtern vor sich hatten, von denen die vordersten sich im Wasser spiegelten.[3]

Waren es noch die Lichter vom Ausstellungsgelände, oder meinte Fontane das gegenüberliegende Spreeufer, wo man sich damals im Tiergarten zwischen den Hohenzollern-Statuen der Siegesallee, im Volksmund den „Puppen“, „bis in die Puppen“ amüsierte?

„Ich möchte wohl noch einen Spaziergang machen“, sagte Czako. „Was meinen Sie, Rex? Sind Sie mit dabei? Wir gehen hier am Ufer entlang, an den Zelten vorüber bis Bellevue, und da steigen wir in die Stadtbahn und fahren zurück, Sie bis an die Friedrichstraße, ich bis an den Alexanderplatz. Da ist jeder von uns in drei Minuten zu Haus.“ Eine halbe Stunde später fuhren sie, wie verabredet, vom Bellevuebahnhof aus wieder in die Stadt zurück.[3]

Von Signalstörung, Schaden am Fahrzeug, Störung im Betriebsablauf, Schienenersatzverkehr zu später Stunde ist im Stechlin nicht die Rede.

Sintflut am Bahnhof Stralau

Nicht nur die Barbyschen Ausflügler aus dem Stechlin-Roman waren auf der Stralauer Spree unterwegs. Stralau spielt in mehreren Romanen Fontanes eine Rolle. Ob adlig oder bürgerlich – man zog damals hinaus vor die Stadt, der frischen Luft, des Wassers wegen oder zum Vergnügen, beispielsweise beim volkstümlichen Stralauer Fischzug. In dem Roman L’Adultera vergnügt sich Kommerzienrat van der Straaten mit Familie und Bekannten bei einem Ausflug in Stralau. In Irrungen, Wirrungen rettet Botho von Rienäcker ein Ruderboot mit Lene Nimptsch vor dem Zusammenstoß mit einem Dampfer. Eine folgenreiche Rettung, auf die zurückzukommen sein wird! Meist nutzte man zum Ausflug nach Stralau ein Dampfschiff oder, sofern man hatte, eine eigene Kalesche. So blieb die Eisenbahn bei Stralau-Ausflügen meist links liegen. Im Roman Die Poggenpuhls kommt allerdings der Bahnhof Stralau-Rummelsburg ins Bild, jene Station, die ab 1882 am Kreuzungspunkt mit der Frankfurter Eisenbahn die frühere, weiter südlich gelegene erste Station Stralau von 1872 ersetzte. Von der Höhe der auf dem Bahndamm gelegenen Station ließ sich damals weit über den Rummelsburger See nach Stralau blicken.

Durch den direkten Stadtbahnanschluss war die Dampferanlegestelle an der Jannowitzbrücke schon Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebter und stark frequentierter Ausgangspunkt für Dampferfahrten auf der Spree.

Fontane kannte offenbar diese Aussicht und war von ihr so beeindruckt, dass er sie auf außergewöhnliche Weise literarisch verwendete: Sophie von Poggenpuhl, eine der Poggenpuhl-Töchter, schreibt aus dem schlesischen Adamsdorf an die Familie, insbesondere an ihre Schwester Manon, in Berlin, Nach längerem Krankenlager findet Sophie dadurch wieder Genesung und Selbstvertrauen, dass sie die Adamsdorfer Kirche mit biblischen Motiven ausmalt. Das nächste Bild soll die Sintflut darstellen. Das Vorbild dazu liefert ihr ausgerechnet die Erinnerung an den Bahnhof Stralau!

Und was denkt ihr nun wohl, wie meine Sintflut aussieht? Ganz anders wie andre … Und nun wirst Du Dich nur noch wundern, wo und wie ich, die ich das Meer nie gesehen, die Vorstellung dazu hergenommen und zu meiner Sündflut verwandt habe. Nun höre. Vielleicht erinnerst Du Dich noch der Partie, die wir vorigen Herbst mit Bartensteins machten, alle dritter Klasse, was Bartensteins noch so sehr amüsierte. Dritter Klasse Ringbahn und bis Bahnhof Stralau. Und als wir da hoch oben ausstiegen, hoch wie der Berg Ararat, da lag der Rummelsburger See mitsamt der Spree wie eine mächtige Wasserfläche vor uns. Dieses Panorama hab ich für mein Bild benutzt. Der Bahnhof ist der Ararat, der Rummelsburger See die Sündflut. Auf stürmische Bewegung, weil ich doch sozusagen nur den Schlußakt der Sündflut gemalt habe, glaubte ich, ohne dadurch unkorrekt zu werden, verzichten zu können.[4]

Ein Zusammenhang zwischen Sophies Sintflut am Bahnhof Stralau und späteren Ereignissen am Ostkreuz lässt sich aus der Briefpassage nicht konstruieren. Es wäre nach dem wesentlichen Abschluss der Bauarbeiten auch eine ungerechtfertigte Ansicht.

(wird fortgesetzt)

 

Anm.: Dieser Text erschien zuerst in der 2. Ausgabe 2019 der Verkehrsgeschichtlichen Blätter.

Alle Fotos entstammen der Sammlung des Verfassers.

Quellangaben
[1] Theodor Fontane: Ein Blick von der Alsenbrücke. In: Ders.: Wie man in Berlin so lebte. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt. Berlin: Aufbau 2000.
[2] Das „Eierhäuschen“ im Plänterwald am Spreeufer war seit dem frühen 19. Jahrhundert eine beliebte Ausflugsgaststätte der Berliner, die nach mehrfachen Bränden immer wieder neu errichtet wurde. Das 1991 geschlossene Lokal verfiel seither, wird aber derzeit restauriert.
[3] Theodor Fontane: Der Stechlin. In: Ders.: Sämtliche Romane. Essen: Phaidon Verlag o. J.
[4] Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1996.

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