Norbert Miller, einer der renommiertesten deutschen Literaturwissenschaftler der Gegenwart, lehnte sich am 11. April 2019 im Literarischen Colloquium am Wannsee gelassen zurück: „Also, um den Fontane, da ist mir auch in Zukunft überhaupt nicht bange.“ Er lächelte und blickte nach rechts auf seinen Podiumsnachbar: Da saß Ernst Osterkamp, ebenso prominent und Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, und der schlug, um sogleich den Beweis anzutreten, das 20. Kapitel von Fontanes letztem Roman Der Stechlin auf. Mit sichtlichem Vergnügen nahm er sich die Erzählpassage vor, las sie und streute Kommentare vom Feinsten ein. Fontane vorgelesen – ein unwiderstehliche Werbung!
Kürzlich klopfte unsere Nachbarin bei uns, sie habe da gerade etwas von Harz-Wanderungen gehört, die Fontane geschrieben habe, ganz zauberhaft, ob ich wisse, wo das stehe … Jetzt liest sie Cécile und verlebt schöne Tage damit. Ein Student, der diesem BLOG ein Semester Gesellschaft leistete, gefragt, wie er zu „Fontane“ kam, ja, er habe durch Zufall eine Gert Westphal-Lesung im Radio gehört. Das hätte ihn umgehauen. Und ein Freund, Leiter des Brecht- und Benjamin-Archivs, gestand, als er jüngst eine Lesung von Frau Jenny Treibel gehört habe, wie verblüfft er von der Modernität dieses vergegenwärtigen Erzählens gewesen sei. Drei Einzelmeinungen?
Der Audio Verlag DAV, zur Verlagsgruppe Random House gehörend, jedenfalls weiß um diese Wirkung Theodor Fontanes – und er bedient das Bedürfnis einer wachsenden Hörbuch-Gemeinde mustergültig. Jüngster Beweis: eine Hörbuch-Box, die zwölf komplett gelesene Romane Fontanes vereint.
Da liest der legendäre Westphal Vor dem Sturm, Irrungen, Wirrungen, Unwiederbringlich, Effi Briest, Die Poggenpuhls und Mathilde Möhring, Kurt Böwe Grete Minde, Hugo R. Bartels L’Adultera, Joachim Höppner Unterm Birnbaum, Heiner Schmidt Cécile, Wolfgang Büttner Frau Jenny Treibel und Hans Paetsch Der Stechlin.
Ja, natürlich, die Kennerschaft vermisst Quitt, fragt nach Ellernklipp und wünscht sich noch Stine – aber das ist kein Anlass zum Mosern. Wie auch die Mischung nicht. Gerade die wechselnden Stimmen zeigen, wie unterschiedlich jene Lesevergegenwärtigung Fontanes ausfallen kann. Wer mag, kann zum Sammler werden und der Stechlin-Lesung Westphals hinterherjagen – und um dabei vielleicht auf den großen Schauspieler Otto Mellies zu stoßen, der vor einigen Jahren diesen hinreißenden Roman eingelesen hat: nicht minder hinreißend.
Der DAV-Verlag hat, in geschmackvoller Gesamtgestaltung, der Box ein kleines Heft beigefügt. In diesem „Booklet“ führt der Fontane-Kenner Klaus-Peter Möller gänzlich unprätenziös, pointiert und entspannt in die jeweiligen Romane ein. Das liest man gerne und freut sich an den Abbildungen. Sie zeigen, wie die Erstdrucke aussahen und geben einen Einblick, wie sich Fontane etwas notierte, was er dann ins Erzählen brachte. Detailliertes zu den Rundfunkaufzeichnungen geben die Einzel-CDs. Vielleicht wäre es für den Benutzer der Box hilfreich gewesen, wenn das Booklet diese konkreten Informationen noch einmal übersichtlich mitgeteilt hätte.
Kritiker müssen immer ein bisschen mosern – aber, offen gestanden: Bei diesem kleinen Hinweis bleibt’s. Der Lektorin Katrin Machulik ist zu danken wie Lucie Zauber, in deren Händen die Redaktion lag – und in besonderem Maße den Gestaltern Danniel Schlereth und Ronny Schrödter. Und Dank gilt allen Sendeanstalten, die diese Lesungen auf den Weg brachten und nichts gegen ihre Wiederveröffentlichung hatten. Wer nach der Veranstaltung im Literarischen Colloquium Berlin (initiiert von der Theodor Fontane Gesellschaft und gemeinsam mit dem LCB durchgeführt) sich im Publikum umsah: er wird nicht wenige freundliche Gesichter gesehen haben, die sich über diese Veröffentlichung des DAV freuen.