Eine verkehrsgeschichtliche Würdigung zum 200. Geburtstag des Dichters
Fenster mit Aussicht auf den „Verbinder“
Fontane wohnte von 1863 bis 1872 im ersten Stock eines Hauses in der Hirschelstraße (ab 1867 Königgrätzer Straße, heute Stresemannstraße) an der Ecke zur Dessauer Straße. Vom Fenster eines der Zimmer ging der Blick auf die Hirschelstraße. Hier verkehrten zu dieser Zeit außerhalb der noch vorhandenen Stadtmauer die Züge der „Königlichen Bahnhofs-Verbindungsbahn“. Die Berliner nannten die Strecke zutreffend „Verbinder“, denn sie verknüpfte seit 1851 die bis dahin voneinander isolierten Fernbahnhöfe zwischen Stettiner und Frankfurter Bahnhof. Vor allem militärische Interessen hatten zum Bau der Bahn geführt, sie diente in Kriegszeiten zur Beschleunigung von Truppen- und Versorgungstransporten.
Das war auch im Jahre 1864 so, als während des Deutsch-Dänischen Krieges österreichisches Militär auf dem „Verbinder“ durch die Hirschelstraße zum Hamburger Bahnhof gebracht wurde – und von dort weiter nach Norden ins Kriegsgebiet. Fontane schrieb zu dieser Zeit gerade über die aktuellen preußischen Kriege, „während die österreichischen Brigaden unter meinem Fenster vorüberfuhren, und wenn zuletzt die Geschütze kamen, zitterte das ganze Haus, und ich lief ans Fenster und sah auf das wunderbare Bild. Die Lowries, die Kanonen, die Leute, hingestreckt auf die Lafetten und alles von einem trüben Gaslicht überleuchtet. Ich wohnte nämlich damals in der Hirschelstraße … die Stadtmauer stand noch, und unmittelbar dahinter verliefen die Stadtbahngleise, die den Verkehr zwischen den Bahnhöfen vermittelten.“[1]
Mit „Stadtbahngleisen“ meinte Fontane die auf Straßenniveau verlaufenden Gleise der Alten Verbindungsbahn, die wegen des zunehmenden Straßenverkehrs in der sich ausdehnenden Stadt immer mehr zu einem Verkehrshindernis wurde. Doch bevor die „Neue Verbindungsbahn“, der heutige S-Bahn-Ring, den „Verbinder“ sukzessive ersetzen konnte, war die alte Strecke besonders in Kriegszeiten stark ausgelastet – wie ein anderer Augenzeugenbericht aus dem Jahre 1870 zeigt. „Ein Wall von Menschen stand am Cottbuser Tor vor den Eisenbahnschienen, und je näher ich kam, um so mehr blitzte es rot aus den Eisenbahnwagen heraus. Gefangene Franzosen wurden durch die Skalitzer Straße transportiert. Sie standen im langsam rollenden Zuge dicht gedrängt in den Viehwagen und schwenkten vergnügt ihre Käppis. Franzosen, Turkos, Zuaven. Alles durcheinandergewürfelt. Augenblicklich stand der Zug – aus irgendeinem Grunde. Sie bettelten um Zigaretten.“(zitiert nach [2]) Nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1877 konnte die Neue Verbindungsbahn nun auch die wesentlichen Aufgaben des alten „Verbinders“ übernehmen. Trotzdem wurde ein letzter Streckenabschnitt für Kohlelieferungen zum Gaswerk in der Gitschiner Straße bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts genutzt.
Ein allerletzter, jedoch musealer und nachträglich eingefügter Streckenrest befindet sich heute nicht weit entfernt von der Stelle, an der Fontane von seinem Fenster aus die österreichischen Truppen beobachtet hatte: In der Stresemannstraße an der Einmündung der Großbeerenstraße erinnern auf dem Mittelstreifen ein kurzes Gleisstück und eine Texttafel an die Alte Verbindungsbahn. Die Tafel erinnert an den regen öffentlichen Nahverkehr, der nach der Stilllegung der Alten Verbindungsbahn auf diesem Straßenabschnitt folgte:
Im Jahre 1873 nahm in dieser Straße die Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Actien-Gesellschaft ihre zweite Strecke in Betrieb. Von 1898 an fuhren hier neben den von Pferden gezogenen auch elektrisch angetriebene Fahrzeuge. Die letzten Pferdebahnen stellten hier im August 1901 ihren Betrieb ein. Von 1902 bis 1953 verkehrten hier in unterschiedlichen Zeitabschnitten jahrelang die Straßenbahnlinien 1, 4, 7, 14, 15, 21, 24, 25, 114 und 115, kurzzeitig auch die Linien 8, 34, 43, 70, 73 und 95. Die letzte auf dieser Strecke noch verkehrende Linie 21 wurde 1953 wegen der Spaltung der Stadt eingestellt und durch die Autobuslinie 24 ersetzt.
Heute benutzt die zwischen Hauptbahnhof und Sonnenallee/Baumschulenstraße verkehrende Buslinie M 41 diesen Abschnitt der Stresemannstraße.
Abstecher ins „Pfulen-Land“
Das frühere Besitztum der altmärkischen Adelsfamilie Pfuel, das Fontane als das „Pfulen-Land“ bezeichnet, „gab es um Buckow herum, an der Grenze von Barnim und Lebus“.[3] Zum Besitz dieser Pfuels gehörten auch nördlich von Buckow gelegene Ländereien, unter anderem Leuenberg, Steinbeck, Tiefensee, Werftpfuhl, Gielsdorf, Wilkendorf… Wer heute per öffentlichem Nahverkehr in diese Gegend vorstoßen will, findet zwar etwas bequemere Verkehrsverbindungen als Fontane zu seiner Zeit. Aber gemessen an der seither vergangenen Zeit kann von großem Fortschritt kaum gesprochen werden. Im Gegenteil: Einige Eisenbahnstrecken, deren Eröffnung Fontane nicht mehr erlebte, sind in letzter Zeit wieder stillgelegt worden.
Heute bietet sich die Ostbahn als „Startrampe“ ins Pfulen-Land an: die S-Bahn-Linie S5 bis Strausberg oder Strausberg Nord und die Regionalbahn RB 26, von der aus man an Knotenpunkten wie Strausberg oder Müncheberg mit Bussen in umliegende (Pfulen-)Orte kommt. (Die schmalspurige Kleinbahn Müncheberg–Buckow, mit der man seit 1897 nach Buckow kam und die 1930 auf Normalspur umgebaut wurde und seitdem elektrisch betrieben wird, stellte den Regelbetrieb 1998 endgültig ein. Ein rühriger Verein hält den Betrieb seit 2002 zeitweise aufrecht.) Wer heutzutage auf Fontanes Spuren in die nördlicher liegenden Bereiche des Pfulen-Landes vordringen wollte, kann auch die RB 25 bis Werneuchen nutzen, wo die Wriezener Bahn seit 10. Dezember 2006 endet; von hier gibt es Busanschlüsse ins Umland.
Im Jahre 1863 arbeitete Fontane an der Fertigstellung des „Oderland“-Bandes der Wanderungen. Für das Kapitel „Das Pfulen-Land“ benötigte er noch Informationen, die er vor Ort einholen wollte. In einem Brief vom 18. September 1863 an Wilhelm Hertz, seinen Verleger, Förderer und zeitweiligen Begleiter bei Brandenburg-Touren, schlug der Dichter Möglichkeiten für eine gemeinsame Reise vor. Wo sich die Eisenbahn anbot, plante Fontane sie ein, doch im Pfulen-Land herrschte damals noch die Postkutsche vor, und für private Fahrten müsste ein Wagen angemietet werden. „Ich gedenke Montag nacht zu reisen, entweder mit der Wriezener oder Müncheberger Post, und den Rest zu Fuß zu machen.; ich komme dann Dienstag abend mit der Frankfurter oder Stettiner Bahn zurück. Sehr reizend wäre es, wenn wir die Frankfurter Reise damit verbinden könnten, was von Ihnen abhängen wird.“
Fontane hatte Interesse an Hertzens Begleitung, weil er dann die Reisekosten hätte teilen können. „Montag mittag ein Uhr in einem Ein- oder Zweispänner Abfahrt von hier auf gemeinschaftliche Kosten bis Strausberg, wo wir etwa viereinhalb Uhr eintreffen. Sofort von dort nach Gielsdorf und Wilkendorf, die dreiviertel Meile von Strausberg entfernt sind … Zu beliebiger Zeit nach Strausberg zurück. Am anderen Morgen von Strausberg nach Fürstenwalde.“ Wegen der damals noch fehlenden Bahnverbindungen blieb für die individuelle Reisegestaltung nur die kostenträchtige Anmietung von Pferdewagen. „Hiergegen ist nur einzuwenden, daß die beiden Wagen, von Berlin bis Strausberg und von Strausberg bis Fürstenwalde, wohl an zehn Rtr. [Reichstaler] kosten würden, und das ist etwas viel.“
Demgegenüber erschienen die Bahnfahrten für Fontane betreffs der Preise nicht erwähnenswert. „Von dort nach Frankfurt, wo wir etwa elfeinhalb eintreffen würden. Mit dem Nachmittags- oder Abendzuge zurück. Ankunft in Berlin achteinhalb.“ Ob Hertz die Ausgaben für die Mietwagen scheute? Jedenfalls ging er auf Fontanes Reisevorschlag nicht ein. Der aber, weil er für die Fertigstellung des „Oderland“-Bandes vor Ort noch recherchieren musste, reiste etwas später allein und auf eigene Kosten ins Pfulen-Land. Ein Brief an Hertz von Anfang Oktober 1863 beinhaltet einen dezenten Vorwurf. „Auch meine Fahrt nach Strausberg, Gielsdorf und Wilkendorf war sehr schön, nur wie all dies Reisen in der Mark, wenn man nicht von Herrn Hertz eingeladen wurde, etwas kostspielig.“[3]
„…seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“,
bemerkte Fontane sarkastisch.[4] Denn nicht erst seit seinen Ausflügen ins Pfulen-Land wusste er, dass man mit der Eisenbahn schneller und preiswerter weite Entfernungen zurücklegen konnte, als es mit regulärer Postkutsche oder mit privat angemietetem Gefährt möglich war. Soweit sich damals vorhandene Bahnstrecken anboten, nutzte Fontane sie und kombinierte sie, wenn sein Ziel per Bahn noch nicht erreichbar war, mit anderen Reisevarianten, gegebenenfalls sogar zu Fuß.
Um schnell nach Etzin im Havelland zu kommen, nahm er bei seinem Besuch dort im Jahre 1861 für den größten Teil der Strecke natürlich die Bahn.
…ich hatte also eine eigne Fahrt, eine kleine Spezialreise dafür anzusetzen. Diese, per Bahn, ging zunächst über Spandau, Segefeld, Nauen, von hier aus zu Fuß aber, an den alten Bredow-Gütern: Markee und Markau vorüber, ins eigentliche Havelland hinein. Der Leser wolle mich freundlich begleiten. Mit dem Glockenschlage zwölf sind wir auf dem Nauener Bahnhof eingetroffen, und das Straßenpflaster mit gebotener Vorsicht passierend, marschieren wir nach zehn Minuten schon, an Gruppen roter Husaren und gelbklappriger Ulanen vorüber, zum andern Stadtende wieder hinaus.[5]
Von Nauen nach Etzin sind es etwas mehr als zehn Kilometer; Fontane hatte also noch einen längeren Fußmarsch vor sich. Doch solche Entfernungen schienen ihn nicht zu belasten, denn „noch ehe der Vorrat unsrer Wanderlieder dreimal durchgesungen, marschierten wir fröhlich und guter Dinge in das alte malerische Dorf hinein.“ Was Fontane in Etzin auf der Suche nach Spuren des „heldenmütigen Pfarrers Joachim Friedrich Seegebart“ fand, ist nicht uninteressant, würde uns aber vom Thema abbringen. Uns interessiert hier mehr, wann und wo Fontane noch mit der Bahn unterwegs war.
Im Spätherbst 1863 plante der Dichter einen Besuch des Klosters Chorin. Zwar hatte er auch den Freund und Förderer Wilhelm Hertz zur Teilnahme (und Kostenbeteiligung?) animieren wollen. Doch man hatte konträre Ansichten über die Startzeiten, wie sich aus Fontanes Korrespondenzen mit Hertz ersehen lässt. „Die Schwierigkeit steckt in der Abfahrtszeit. Ich kann nicht (eben weil ich nicht ganz wohl bin) um fünf aufstehen, um um sieben den Zug zu benutzen“, schrieb Fontane. Ob Hertz Frühaufsteher war und deswegen absagte? Fontane war enttäuscht, blieb aber bei seinen zeitlichen Vorstellungen. „Bedaure sehr, daß ich um die Freude kommen soll, die Chorin-Partie mit Ihnen zusammen zu machen … die Strapaze besteht einfach in dem Früh-aufstehen-Müssen, also Keine-Nachtruhe-Haben…“(zitiert nach [5]) Schließlich brach Fontane mit anderen Freunden Anfang November 1863 nach Chorin auf.
„Chorin erreicht man am bequemsten von der benachbarten Eisenbahnstation Chorinchen[6] aus, die ziemlich halben Weges zwischen Neustadt-Eberswalde und Angermünde gelegen ist. Ein kurzer Spaziergang führt von der Station aus zum Kloster.“ Doch diesen Weg sparte man sich und mietete stattdessen einen Privatwagen. „Empfehlenswerter aber ist es, in Neustadt bereits die Eisenbahn zu verlassen und in einem offenen Wagen, an Kapellen, Seen und Laubholz vorbei, über ein leicht gewelltes Terrain hin, den Rest des Weges zu machen.“[5] Noch heute erreicht man das Kloster von der Bahnstation Chorin nach einem Spaziergang; man kann aber auch, wenn die Ausleihstation im Bahnhof geöffnet ist, die berühmte Ruine mit dem Fahrrad ansteuern. Viele der heutigen Besucher verstehen allerdings Fontanes Empfehlung auf ihre Weise und reisen mit ihren privaten (nicht immer offenen) Wagen zum Kloster.
*
Theodor Fontane war und ist in diesem Jahr aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet und gewürdigt worden. Die Verkehrsgeschichtlichen Blätter wollten jenen Aspekt in Fontanes Schaffen thematisieren, der zum Profil unserer Zeitschrift passt: Fontane und die Bahnen. Schon der junge Dichter hatte eine besondere Beziehung zu dem Mitte seines Jahrhunderts aufstrebenden modernen Verkehrsmittel. Davon war in der ersten Folge dieser Beitragsreihe zu lesen. Auch davon, dass Fontane in jungen Jahren wegen finanzieller Schwierigkeiten eine feste Anstellung bei der Eisenbahn flüchtig erwogen hatte. Dazu kam es nicht, aber die sechs Beitragsfolgen machten deutlich, dass der Dichter zeitlebens nicht nur Sympathien für die Eisenbahnen zeigte, sondern sie auch oft nutzte. Fontane war also bei den Wanderungen durch die Mark Brandenburg nicht nur zu Fuß unterwegs, sondern oft – soweit damals vorhanden – mit der Eisenbahn. Und nicht nur in Brandenburg kannte er sich aus auf den Bahnstrecken! (Auf seine häufigen Reisen mit englischen Eisenbahnen wurde hier bewusst nicht eingegangen.)
Fontane nutzte seine vielfältigen Reiseerfahrungen dann auch für seine Romane. Wir lasen davon, wie Cécile mit ihrem Gatten, Effi und Instetten, Botho und Lene, Graf Holk und Fräulein Ebba, die Poggenpuhls und viele andere seiner Romanfiguren mit Zügen unterwegs waren. Meist ließen sich Strecken und Stationen historisch belegen, beispielsweise ist die Stadtbahnfahrt der Arnauds ein Zeitdokument. Demgegenüber ließ sich eine Station Klein-Tantow in Pommern, so wie Fontane sie beschrieb, nicht ermitteln – sie ist Fiktion. Die sechs Beiträge gingen nur am Rande auf den Inhalt von Fontanes „Wanderungen“ und auf die Handlungen seiner Romane ein. Aber vielleicht ist bei einigen Lesern das Interesse geweckt, wie es in Fontanes Werken weitergeht, wenn der Dichter oder seine Figuren die Züge verließen?
Anm.: Dieser Text erschien zuerst in der 6. Ausgabe 2019 der Verkehrsgeschichtlichen Blätter.
Quellenangaben
[1] Brief an Ernst Gründler vom 6.11.1896, zitiert nach: Seiler, B. W.: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. – verlag für berlin-brandenburg. – Berlin, 2010
[2] Zschocke, H.: Die erste Berliner Ringbahn. – Verlag Neddermeyer. – Berlin, 2009
[3] Fontane, Th.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Band 2: Oderland. – Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1982
[4] Grawe, Ch. (Hrsg.): Fontane zum Vergnügen. – Philipp Reclam jun. – Stuttgart, 1994
[5] Fontane, Th.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Band 3: Havelland. – Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1982
[6] Ein Haltepunkt mit dem offiziellen Namen „Chorinchen“ wurde erst 1902 eröffnet. Fontane hat dessen Eröffnung nicht mehr erleben können. Mit der Verkleinerungsform kann also nur der zu Fontanes Zeiten betriebene Bahnhof „Chorin“ gemeint sein. Dass der Dichter den 1857 eröffneten Bahnhof Chorin „Chorinchen“ nannte, sollte wohl eine emotionale Beziehung zu der Station betonen?
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