SIMON: Er heißt nicht Fonck-tahne. Er heißt Fon-tane.
WALTER: Also ein Adliger.
SIMON: Nein, in einem Wort. Wie Fontäne. Nur ohne die Ä!-Striche über dem A. Hast Du nie von dem Schriftsteller Fontane gehört? (S. 151)
Mit diesen Worten und damit in media res beginnt der erste Dialog von Günter Bruno Fuchs Hörspiel Bei Ribbeck im Havelland. Eine Deutschlandfabel (urgesendet im SDR am 13. Juni 1971). Wie der Titel zeigt, spielt Fuchs auf Fontanes berühmtes Gedicht Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland an. Doch diese Sätze des Hörspiels verweisen auf keine klassische Fontane-Stoff-Adaption. Und dies ist Fuchs Hörspiel auch nicht. Denn die als Prolog fungierende Ansagerstimme verrät noch vorher den Kontext:
Bei Ribbeck im Havelland, – querfeldein schon nicht mehr! – sprang nachts der Hase herüber von einer Straßenseite herüber zur andern in Hoppeljagd, geriet ins Streulicht der Autoscheinwerfer, geriet nicht unter die Räder, schlug nicht, geblendet, gegen Stoßstange oder Kotflügel, setzte rasch ins Waldunterholz, setzte nach dorthin, wo es dicht war und angenehm für Hasen, die spät und sonstwann querfeldein gerannt waren damals durch die Deutsche Demokratische Republik und nun bei Ribbeck im Havelland, auf der Autostraße kurz vor Berlin, genauso in Gefahr kommen konnten wie auf jeder Autostraße damals in der Deutschen Bundesrepublik, denn beide deutsche Staaten, – zeitlebens bemüht um: Menschenschutz! – hatten der gewichtigen Frage nach Hasenschutz! nur wenig abgewonnen, das heißt, Streitgespräche um dieses Problem entstanden mehr inoffiziell, eins davon ist überliefert. (S. 151)
Fuchs – Romanautor, Erzähler, Lyriker, Hörspiel- als auch Briefschreiber sowie Grafiker – entwirft eine ins Absurde abdriftende Ost-West-Hasen-Geschichte: Die beiden Protagonisten Simon Böttcher und Walter Runge passieren auf der Rückkehr von Hamburg nach West-Berlin die Deutsche Demokratische Republik. Bei Ribbeck quert dann ein Hase den „Pöö-djooh“ Walters. Es passiert glücklicherweise nichts. Kurz darauf und kurz vor der Grenzkontrolle halten die beiden am rechten Fahrbahnrand der Autobahn und laufen zu Fuß weiter, lassen den nagelneuen Wagen zurück.
Was folgt sind skurrile, komische Szenen. Erst werden die beiden fünf Tage in der Ost-Grenzkontrolle festgehalten, danach von einem West-Inspektor vernommen. Als schließlich noch die Frauen der Protagonisten, ein Pressevertreter und ihr Junior-Chef auftreten, ist die Absurdität perfekt.
Über allem thront dabei Fontanes Gedicht vom Herrn Ribbeck. In den unmöglichsten Momenten werden die Strophen zitiert und vorgetragen. Ein Beamter des West-Inspektor kommt schließlich nicht umhin, anzudeuten, „daß diese Affäre, die mich nichts angeht, daß mich diese Affäre an das alte Ribbeck-Gedicht erinnert, das ich (zögert, dann entschloss) gern … aufsagen möchte […]“ (S. 174f.)
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wiste ’ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“
Der Schluss legt am Ende eine Verbindung von Gedicht und Hörspiel offen. Wie der alte Herr von Ribbeck den Kindern Birnen schenkte, so „schenken“ die Protagonisten der DDR ein nagelneues West-Auto. Dass dies nur die Oberfläche berührt, was Fuchs in seinem Hörspiel intendiert, zeigt unter anderem die überspitzte, ins Satirische greifende Darstellung des Ost-Hauptmanns und des West-Inspektors, oder die immer wiederkehrende Frage nach dem Hasen. Besonders Letzterer könnte als Schlüssel zur Lösung der Analogie vom Fontane Gedicht zum Fuchs Hörspiel dienen, ist er es doch, der „bei Ribbeck im Havelland“ die Szenerie durchkreuzt und die Begebenheit auslöst.
Dass der Hase eine übergeordnete Rolle im Hörspiel des 1928 geborenen Günter Bruno Fuchs einnimmt, geht aus der Betrachtung seines Gesamtwerkes hervor. Fuchs, der ein enger Freund von Johannes Bobrowski war und in den 60er und 70er-Jahren in der Berliner Schriftsteller- und Grafikerszene einen Namen hatte, widmete sich in seinen Werken den unscheinbaren und beinah vergessenen Individuen – den Zigeunern, den Krümelnehmern (so der Titel eines Romans) oder auch den Tieren (nicht umsonst ist das Hörspiel als DeutschlandFABEL unterschrieben). Seine Gedichtbände tragen Namen wie Pennergesang oder Blätter eines Hof-Poeten, seine Verse sind nicht von Pathos geladen, sondern meist liedhaft und schlicht anmutend.
Insofern ist seine Beschäftigung mit Fontanes Ribbeck-Gedicht mitnichten nur eine skurrile und ulkige Parodie und Analogie. Es ist vielmehr die von Komik und Absurdität verschleierte parabolische Umsetzung eines heiklen Kerns: Denn wie der Sohn des Herrn von Ribbeck die Birnen den Kindern verwehrt, so verwehrt Fuchs ein einseitiges Urteil über Ost (DDR) und West (BRD) und lässt ganz dem alten Herrn von Ribbeck gleich, einen Birnbaum – in Form eines Hasen – aus dem Grabe sprießen.
Und die Jahre gingen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung‘ übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: „Wiste ’ne Beer?“
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew‘ di ’ne Birn.“
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Die Deutung des Hörspiels erschöpft sich aber nicht in einer Betrachtungsweise – kann es doch viele andere Lesarten des Fontane Gedichts innerhalb des Fuchs Hörspiels geben. Entscheidend dafür ist die Art der Adaption, die Fuchs gewählt hat. Statt einer klassischen Roman-Adaption, wie sie die große Hörspielbox vereint, nimmt der Berliner Fuchs ein kanonisiertes Gedicht und integriert es in einen damalig aktuellen Kontext, der ihn als West-Berliner stets anging. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Leseerlebnis…
Leider fand sich bei der kurzen Internet-Recherche nicht ein original Tondokument, dafür aber ein Verweis auf Regie, Sprecher und weitere Sender, die die Produktion übernahmen. Nichtsdestotrotz soll die kurze Darstellung des Hörspiels von Günter Bruno Fuchs das Augenlicht im Allgemeinen auf die vielen Fontane Adaptionen des 20. Jahrhunderts lenken und im Besonderen auf den Dichter selbst, der heutzutage an Bekanntheit verloren hat.
Nachweise
Günter Bruno Fuchs: Bei Ribbeck im Havelland. Eine Deutschlandfabel. In: ders.: Werke in drei Bänden. Hg. von Wilfried Ihrig. Bd. 3: Hörspiele und Schriften. München, Wien 1995, S. 149-184.