Ist Fontane ein „Nature Writer“? Über einen neuen Zugang zum Werk

Buckow = „schönste Landschaftsbilder“

Buckow hat einen guten Klang hierlands, ähnlich wie Freienwalde, und bei bloßer Nennung des Namens steigen freundliche Landschaftsbilder auf: Berg und See, Tannenabhänge und Laubholzschluchten, Quellen, die über Kiesel plätschern, und Birken, die, vom Winde halb entwurzelt, ihre langen Zweige bis in den Waldbach niedertauchen. […]
Wir nehmen nun unsern Stand und haben vielleicht das schönste Landschaftsbild vor uns, das die „Märkische Schweiz“ oder doch der „Kanton Buckow“ aufzuweisen vermag. Links und rechts, in gleicher Höhe mit uns, die Raps- und Saatfelder des Plateaus, unmittelbar unter uns der blaue, leis gekräuselte Scharmützel-See, drüben am andern Ufer, in den Schluchten verschwindend und wieder zum Vorschein kommend, die Stadt und endlich hinter derselben eine bis hoch hinauf mit jungen frischgrünen Kiefern und dunklen Schwarztannen besetzte Berglehne. Die Nachmittagssonne fällt auf die Stadt, die mit ihren roten Dächern und weißen Giebeln wie ein Bild auf dem Hintergrunde der Tannen steht, das Auge aber, wohin es auch die Mannigfaltigkeit des Bildes gelockt werden möge, kehrt immer wieder auf den rätselvollen See zurück, der in genau zu verfolgenden Linien unter uns liegt. (Fontane, S. 101 u. 107)

Was ist „Nature Writing“?

Der Begriff des „Nature Writing“ ist bezüglich seiner Definition nicht auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Festzuhalten ist, dass er aus dem anglophonen Raum stammt und dort zwei Traditionsstränge – einen amerikanischen und einen britischen – gebildet hat. Der erste Strang wurde durch Ralph Waldo Emerson und vor allem Henry David Thoreau sowie dessen weltliterarisches Werk Walden; or, Life in the Woods begründet. Der zweite geht auf Gilbert Whites naturwissenschaftliche Schriften zurück und wurde bzw. wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „New Nature Writing“ von Autor:innen wie Annie Dillard, Richard Mabey und Robert Macfarlane vertreten.

Bereits anhand der Auflistung der Protagonist:innen lässt sich eine erste Differenzierung vornehmen. Während Emerson und Thoreau als Schriftsteller und Philosophen den amerikanischen Transzendentalismus prägten, war White vor allem Naturforscher. „Nature Writing“ changiert daher zwischen den Polen der Kunst und der Wissenschaft. Selbstverständlich gibt es daürber hinaus Versuche, den Begriff zu bestimmen. Beispielsweise definiert Don Scheese ihn als „a first-person, nonfiction account of an exploration, both physical (outward) and mental (inward), of a predominantly nonhuman environment“ (Scheese, S. 6).

Hierbei fällt beispielsweise die Prämisse, dass „Nature Writing“ nicht-fiktional sein soll, auf. Weitere Definitionsvorschläge gehen genau darauf ein und öffnen den Begriff – fort von einer Genre- oder Gattungszuweisung. Jürgen Goldstein spricht von einer „literarischen Strömung“, die

ein spezifischer Versuch [ist], einen empfindsamen Ausdruck der Natur zu kultivieren, um implizit oder explizit rationalistische Modernitätspathologien zu diagnostizieren und, wenn möglich[,] zu kurieren […]. (Goldstein, S. 25)

Wiederum ist für Ludwig Fischer „Nature Writing“ kein literarisches Genre, keine Gattung oder Textsorte. Ihm geht es um andere Aspekte: Erstens solle „die literarische Ausarbeitung auf intensive, ‚authentische‘ Wahrnehmung und Erkundung von konkreter Natur und Landschaft zurückgeh[en], auf sozusagen leibhaftige Begegnung und Auseinandersetzung mit nichtmenschlichen Lebewesen“. Zweitens sei entscheidend, „dass der bzw. die Schreibende die literarisch ausgearbeiteten Wahrnehmungen und Erfahrungen tatsächlich selbst gemacht hat und dies auch in der Schreibweise zu erkennen gibt“. Und drittens müssen die Texte „hohen literarisch-ästhetischen Ansprüchen genügen.“ (Fischer, S. 45f.)

Ein deutschsprachiges „Nature Writing“?

Die Schwierigkeit den Begriff „Nature Writing“ zu definieren, hat überdies Auswirkungen auf die Bildung eines „Nature-Writer“-Kanons. Exemplarisch wird dies in dem angedeuteten Fall, wenn nach Scheese fiktionale Text aus diesem Kanon fallen. Insofern lassen sich nur mit genauer Begriffsbestimmung Schriftsteller:innen dem „Nature Writing“ zuordnen. Noch diffiziler wird dieses Unterfangen, wenn versucht wird, eine Traditionslinie in einer Literatur wie der deutschsprachigen zu rekonstruieren. Dies ist deshalb so, weil ein im angloamerikanischen Raum geprägter Begriff nicht ohne weiteres auf den deutschen Raum transferiert werden kann. Dass dennoch erste Anstrengungen dafür unternommen werden, verdankt sich dem von Gabriele Dürbeck und Christine Kanz herausgegebenen Sammelband Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart.

Der alliterierend Titel setzt den Anfangspunkt einer deutschsprachigen „Nature Writing“ Tradition bei Goethe. Ihm folgend werden chronologisch Autor:innen (vor allem Autoren) fokussiert, die mit einigen Ausnahmen zum deutschsprachigen Literatur-Kanon gehören: von u.a. Hölderlin, Novalis, Alexander von Humboldt über Kafka, Lehmann, Kolmar zu Handke, Sebald und Kinsky. Die Beiträge des Bandes versuchen nun anhand ihrer spezifischen Begriffsdefinition, nach Analyse ausgewählter Texte die Autor:innen als Vertreter des „Nature Writing“ zu oder nicht zu deklarieren.

Fontane als „Nature Writer“?

Auch Fontane findet Eingang in den Band. Anke Kramer widmet sich in ihrem Beitrag „Fluide ‚Heimat'“ Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Während ihr Begriff von „Nature Writing“ mehrere Bestimmungen (u. a. von Scheese und Fischer) vereint, ist ihr Untersuchungsgegenstand in den Wanderungen klar: Es ist das Wasser.

Ausführlich charakterisiert Fontane die vielfältigen Erscheinungsweisen des Wassers in der Mark: Die großen Flüsse Havel, Oder und Spree, und die kleineren, Rhin, Dosse und Nuthe; den Ruppiner und den Rheinsberger See, den Großen Stechlin, den Schermützel-See, den großen und den kleinen Tornow-See, die Teufelsseen, den Werbelliner See, den Müggelsee. (Kramer, S. 153)

Für zweierlei ist das Wasser in den Wanderungen entscheidend. Es ist auf der einen Seite Ursprung der Mark, weil erst nach jahrhundertelangen Entwässerungs- und Kultivierungsprozessen ihr Gebiet erschlossen wurde (vgl. ebd. und bspw. Fontane, S. 41: „Das Oderbruch zwischen Frankfurt und Küsterin war längst unter Kultur; das sumpfige Niederbruch, zwischen Küsterin und Freienwalde, war der Kultur erst zu erobern.“). Die daraus entstehende Formvielfalt des Wassers – Flüsse, Seen, Gräben, Luche – organisiert nun auf der anderen Seite Inhalt und Form der Wanderungen. Drei der vier Wanderungsbände sind nach Flüssen benannt und weisen dem Wasser eine übergeordnete Rolle zu. Außerdem bestimmt die im Text dargestellte Topographie der einzelnen Gewässer die Form des Erzählens. Kramer konstatiert in Bezug auf die Spree: „Der Fluss organisiert die textuelle Topographie.“ (Ebd., S. 155)

Ein weiterer Aspekt, den Kramer herausstellt, ist, dass die Gewässer aktiv für die Konstitution einer Geschichte der Landschaft genutzt werden. In der eingangs zitierten Passage aus den Wanderungen (Buckow, Oderland) heißt es beispielsweise in einer von einem Fischer an den Wanderer berichteten Sage über eine „versunkene Stadt“ im Schermützel-See („der rätselvolle See“):

Dort unten liegt die alte Stadt. Drüben am andern Ufer, wo Sie die spiegelglatte Stelle sehen, dort hat Alt-Buckow gestanden. […] Von dem Eck dort, wo die Binsen hundert Schritt weit in den See hineingehen, bis hier gradüber von uns, wo die Weiden ins Wasser hängen, – so weit ging die Stadt.

Nicht die Stadt wird beschrieben, sondern der See, welcher als Bürge für die Wahrheit über die versunkene Stadt instruiert wird. Hintergrund, weshalb die Stadt im See versunken ist, ist das geologische Ereignis eines „Erdfalls“, wobei „ein unterirdischer, wassergefüllter Hohlraum plötzlich einstürzt.“ (Ebd., S. 159) Fontane nimmt dieses Wissen aus naturgeschichtlichen und geologischen Forschungsbüchern, die Kramer als das „Archiv des Wanderers“ benennt. Durch die Verbindung von erzählerischer Passage und wissenschaftlich begründetem Fakt wird der Schermützel-See zum „Zeuge und Zeugnis dieser erdgeschichtlichen Vorgänge“ und „übermittelt […] ein geologisches Gedächtnis der Mark Brandenburg.“ (Ebd.)

Jedoch weist Kramer weiterhin nach, dass es Fontane sowohl mit den sagenhaften Erzählpassagen als auch mit den wissenschaftlichen Fakten nicht allzu genau nimmt. Denn die Sage von der versunken Stadt ist nicht im Schermützel-See lokalisiert, sondern im benachbarten Buckow-See. Und auch das präsentierte geologische Wissen über den Schermützel-See stimmt nicht mit den Quellen überein. In denen wird dieser See nicht zu den „Erdfall-Seen“ gezählt. Hierbei lässt sich ein ähnlicher Punkt erkennen, den Maria Döring in Fontanes „Bienen-Winkelried“-Gedicht nachgewiesen hat. Für die Analyse der Wanderungen lässt sich festhalten, dass es „Fontane um etwas anderes als um die Vermittlung exakten geologischen, geographischen und kulturhistorischen Wissens“ (ebd., S. 160) geht.

Das Fazit Anke Kramers fällt nach dieser Darstellung positiv aus, Fontanes Wanderungen einem Begriff von „Nature Writing“ zuzuordnen, wenngleich deren Erzählstrategie nicht-fiktionalen Ansprüchen nur bedingt entspricht. Kramers Resümee ist von daher mitnichten auf die Frage, ob Fontane ein „Nature Writer“ ist, zu reduzieren. Vielmehr muss der Blick auf das Werk im Fokus einer „Nature-Writing-Perspektive“ hervorgehoben werden. Denn

[e]ine Lektüre der „Wanderungen“ mit Fokus auf die Gewässer und ihre Eigenschaften kann aufdecken, auf welche Weise diese Texte aus einer Interaktion der „agency“ nichtmenschlicher Materie mit der Wahrnehmung und Fantasie des Wanderers und dem kulturellen Gedächtnis bzw. Archivwissen hervorgehen. (Ebd., S. 156)

Eine solche Lektüre kann neue Zugänge in und Erkenntnisse über das Werk Theodor Fontanes ermöglichen.

 

Literatur

  • Fischer, Ludwig: Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
  • Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Barnim-Lebus. Hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin/Weimar: Aufbau 2001.
  • Goldstein, Jürgen: Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
  • Kramer, Anke: Fluide „Heimat“: Wasser und Nature Writing in Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In: Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart. Kontroversen, Positionen, Perspektiven. Hg. von Gabriele Dürbeck und Christine Kanz. Stuttgart: J. B. Metzler 2020, S. 149-167.
  • Scheese, Don: Nature Writing. The Pastoral Impulse in America. New York/London: Routledge 2002.

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