„Mich absorbiert ganz das Theater“ – Die Theaterkritiken Fontanes neu ediert

Theatermotive im Erzählwerk 

Wenn man sich die Mühe macht und Fontanes Erzählwerk nach Schlagworten wie „Theater“ oder „Schauspiel“ durchsucht, wird man erstaunt sein, in welcher Vielfalt jene, in all ihren Schattierungen, Nuancierungen und Kontexten auftauchen. Nach der Lektüre weniger Fontane-Romane ist es unumstößlich: Fontane war ein Autor mit Theater-Affinität. Dialoge über Theaterbesuche lassen sich in einer Vielzahl finden, sind oft Rahmen der Konversation und gesellschaftliches Ereignis. Novitäten und Schauspieler werden diskutiert. Eine Kommunikationsbasis entsteht, die die fiktive Romanwelt mit faktischen Stücken und Diskursen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbindet. Aktualität und Zeitgeschehen werden in Erzählstränge eingebaut. Figuren charakterisieren sich durch ihr Theaterwissen oder Nicht-Wissen und positionieren sich dadurch. Vergleiche und Metaphern aus der Theaterwelt durchziehen die Narrationen Fontanes. 

Der Theaterkritiker Fontane

All dies scheint nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, dass Fontane über zwanzig Jahre für die Vossische Zeitung den „Brotberuf“ des Theaterkritikers ausübte – zwei Jahrzehnte auf seinem Stamm-Parkettplatz Nummer 23 im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Durchschnittlich entstanden dreiunddreißig Kritiken pro Schaffensjahr. Sein produktivstes war 1879 mit insgesamt dreiundsechzig Kritiken. 

An Mathilde von Rohr schrieb er am 30. November 1871: „Mich absorbiert ganz das Theater, vier Vorstellungen in einer Woche.“ Diese überaus produktive Zeit wäre nur allzu leichtfertig als periphere Erscheinung im Œuvre Fontanes zu betiteln. In den von mir konsultierten Biographien – von Dieterle, D’Aprile oder auch Nürnberger – wird dem Theaterkritiker nur wenige Seiten gewidmet. Auch Fontane selbst attestierte der Gattung eine geringe Haltbarkeit, wenn er am 22. August 1874 seiner Frau – über einen gelesenen Roman – schrieb: „Betrüblich hat mich nur das eine gestimmt: solch‘ Buch kommt und geht und lebt nicht viel länger als ein Leitartikel oder eine Theaterrezension.“ Dass seine Theaterrezensionen nach über hundert Jahren gelesen werden, hätte der Autor wohl selbst nicht vermutet.

Neuediton in der Großen Brandenburger Ausgabe

Der zweite Band der Theaterkritiken in der Großen Brandenburger Ausgabe

Die Theaterkritiken 1870 – 1894 wurden – rechtzeitig zum Fontane-Jahr – neu ediert und herausgegeben von Debora Helmer und Gabriele Radecke in Zusammenarbeit mit der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen im Aufbau Verlag. Eine maßgebende Grundlage für die Neuedition sei die Nymphenburger Fontane-Ausgabe, die im Editionsbericht mit würdigenden Worten versehen wird: sie habe „Pionierarbeit geleistet“. Für die vorliegende Edition wurden die jeweiligen Jahrgänge der Vossischen Zeitung autopsiert. Hierdurch sind 24 Kritiken und Nachtkritiken erstmals zugänglich gemacht worden (vgl. Wolfgang Rasch – Bibliographie). 

Die Neuedition umfasst drei Textbände – ingesamt 649 Kritiken, und einen Kommentar-Band, zusammen 3.104 Seiten. Dies kann auf den ersten Blick überfordernd, gar überwältigend wirken. Es handelt sich zweifelsohne um voraussetzungsreiche Texte. In literatur-, theaterhistorischer und auch poetologischer Hinsicht aufschlussreich, ist eine historische und mediale Kontextualisierung geradezu notwendig, damit sich der Mehrwert der Kritiken den heutigen RezipientInnen nicht verschließt. Genau dies vermag die Neuediton zu leisten.

Gabriele Radeckes Editionsbericht zum vierten Teilband der Ausgabe akzentuiert prägnant und übersichtlich Aufbau und Vorgehensweise der geleisteten Arbeit. Erläutert werden dabei Entscheidungsfindungen, die sowohl die Kategorisierung der Kritiken (in „Theater-“ und „Nachtkritiken“ sowie in „Weitere Texte“) als auch ihre jeweilige Darstellungsweise betreffen. Diese umfassen eine einheitliche Kopfzeile, in der „die Ordnungsnummer der Edition, den Namen des Autors und ggf. des ermittelten Übersetzers sowie des Titels“ enthalten sind, und eine um eindeutige Fehler retuschierte Textkonstitution, die auf den Zeitungserstdrucken beruht. Abschließend wird das Kommentierungsverfahren skizziert.

Durch die sorgsamen Stellenkommentare bekommt der Leser die Informationen, die für ein vielschichtiges Verstehen notwendig erscheinen. Auch andere zeitgenössische Theaterkritiker – wie Friedrich Adami oder Paul Lindau – finden ihren Weg in die Stellenkommentare, wenn sich Fontanes Bewertung konträr zu diesen verhält, wenn es interessante Bezugspunkte zu geben scheint. Und dies ist nur ein Exempel, warum der Kommentar genau das macht, was er soll: kontextualisieren, erklären, aber vor allem Freude und Anlass zum Weiterdenken und Weiterforschen bieten. 

Drama und Theater in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 

Zugegeben: Denke ich an die Schaffensphase Fontanes und die damalige Dramenlandschaft, fallen mir nicht allzu viele bekannte Novitäten ein. Allgemein gilt die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert nicht gerade als Glanzzeit des Dramas. In einer Studie von Helmut Schanze heißt es: „Der Grundwiderspruch des Dramas im ‚Bürgerlichen Realismus‘ […] besteht in der Kluft zwischen Verfallsklage und Erfolgspraxis. […] Theorie und Praxis des Theaters von 1850 bis 1890 scheinen auseinanderzufallen, so, daß beide kaum noch aufeinander beziehbar sind, ein Widerspruch, der über den Weg der Klassikerpflege in den Spielplan hinein geht und von dort aus auch wieder die theatralische Praxis bestimmt […].“

Der Spielplan des Königlichen Schauspielhauses teilte sich in zwei konträr erscheinende Teile: Es wurden Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist gespielt, deren kanonisierte Stücke auch dem heutigen Leser sehr wohl bekannt sind. Anders sieht es mit Stücken von Charlotte Birch-Pfeifer oder auch Albert Emil Brachvogel aus. Das vielgespielte Stück „Der Störenfried“ von Roderich Benedix ist ein Beispiel für eine Vielzahl vom kollektiven Vergessen bedrohter Stücke. 

Einführende Kommentar von Debora Helmer

Der Kommentarband der Theaterkritiken in der Großen Brandenburger Ausgabe

Der einführende Überblickskommentar Debora Helmers – einleitend in Band 4 zu finden –  soll „zu einer Profilbildung Fontanes als Theaterkritiker“ beitragen. Fontanes Weg zur Vossischen Zeitung wird anskizziert. Charakteristika, Konventionen und Bedingungen des Dramas und Theaters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden grundlegend herausgestellt, ebenso die Eigenheiten des Königlichen Schauspielhauses und dessen Intendanten Botho von Hülsen und Bolko von Hochberg. All dies bildet ein notwendiges Fundament für den Leser. 

Helmer betont:

Es liegt eine Herausforderung in der Textsorte „Theaterkritk“ vor allem für diejenigen Leserinnen und Leser, die aus dem zeitlichen Abstand heraus auf den Gegendstand Theateraufführung blicken, der in seiner Immatrialität völlig auf die Beschreibung durch den Kritiker angewiesen ist. Die Subjektivität dieser Beschreibungen kann höchstens relativiert werden durch die Texte anderer Theaterkritiker. Klassiker oder seit Langem populäre Stücke wie etwa Birch-Pfeiffers „Grille“ hat Fontane als bekannt vorausgesetzt und sich meist darauf beschränkt, über die schauspielerischen Leistungen sowie das Bühnenbild und die Ausstattung zu berichten. Bei neueinstudierten Stücken oder Berliner Erstaufführungen hat er sich prinzipiell mehr auf den Dramentext beschränkt.

Inszenierung, Poetologie und Zeitdruck 

Unter Zeit- und Schaffensdruck musste Fontane situationistisch, teils aus dem Affekt heraus schreiben. Widersprüche in seinen Urteilen lassen sich finden, ebenso wie übergreifende Bewertungskriterien, wobei „Eindeutigkeit nicht immer unbedingt Fontanes Sache“ sei. „Wirkungspotential“, „Wahrheit“ und „Verklärung“ würden die grundlegenden Orientierungspunkte in Fontanes Urteilen bilden. In einer Kritik über Julius Grosses „Tiberius“ (Band 2; S. 65) betont Fontane, dass ihm historische Genauigkeiten weniger gewichtig sind als poetische Überlegungen: Auf „Tiberius folgt Caligula. Historisch ist das richtig, poetisch ist das falsch.“

Fontane sei jemand, der sich in die Rolle des Theaterkritikers begebe, der sich durch diese positioniere und selbstinszeniere. Nicht nur die Aufführung beobachte er, sondern auch das Verhalten des Publikums, das des Öfteren nicht zu seiner Zufriedenheit agiere.

Gezückt mit Notizbuch scheint er, über das Publikum zu blicken, Kollektivurteile zu hinterfragen und sich ebenso für das Theater als gesellschaftlichen Kulminationsraum zu interessieren. In einer Kritik über „Der Fürst von Verona“ von Ernst von Wildenbruch (Band 3, S. 327f.) heißt es:

Herr v. W. hat ausgesprochene Gaben, die zu bezweifeln oder auch nur zu verkleinern, so viel ich weiß, bisher niemanden eingefallen ist; als Gesamterscheinung aber ist er mindestens ebenso tadelns- und preisenswerth, eben so reich an großen Fehlern wie an Vorzügen, und dies seitens des Publikums beständig ignoriert und dadurch ein schreiendes Missverständniß zwischen Gabe und Dank, zwischen Anspruch und Leistung geschaffen zu sehen, das ist es, was verstimmt und reizt und es dem Gewissenhaftesten und Wohlwollendsten (und ich nehme beides für mich in Anspruch) schwer macht, immer und besonders in der ersten Hitze des Gefechts den richtigen Ton zu treffen.

An dieser Stelle ließe sich eine Variation an humorvollen, polemisch zugespitzten Zitaten aus den Theaterkritiken einführen, die Beweise dafür sind, dass diese Gattung gewiss nicht so kurzlebig ist, wie es Fontane selbst betonte. Man nehme einen der drei Textbände in die Hand, schlage ihn auf und beginne zu lesen. Vielleicht zu Anfang herantastend, doch schnell wird man merken, dass Fontanes Theaterkritiken keine als obsolet abzutuende Überbleibsel am Rande seines Werkes sind – auch hierfür sorgt die Neuedition mit Bravour. Vielmehr können die Kritiken eine initiative Grundlage sein, für weitere Beschäftigungen mit der damaligen Dramenlandschaft, sie vermögen es, vergessene Stücke wiederzuentdecken – und sich so oder so an dem gewitzten Kritiker Fontane zu erfreuen, der in enger Korrespondenz mit dem bekannteren Romanautoren zu stehen scheint.

Helmer endet ihren Kommentar mit dem Appell:

Zwar wurden in Einzelstudien zu den verschiedenen Erzählwerken die Referenzen und Bezüge zu Drama und Theater erörtert, und die Analogiebeziehung zwischen Ernst Wicherts Lustspiel „Ein Schritt vom Wege“ und „Effi Briest“ mag hinreichend analysiert worden sein, doch insgesamt ist die Rolle des Theaters mitsamt seinem Umfeld in Fontanes Erzählwerk bislang zu wenig und vor allem nicht systematisch erforscht. Auch hierzu erhofft die vorliegende Ausgabe einen Anstoß zu geben. 

 

Ein großer Dank geht an den Aufbau-Verlag – für die freundliche Bereitstellung eines Reszensionsexemplars!

Theodor Fontane: Theaterkritik 1870-1894. Große Brandenburger Ausgabe: Band 1 Kritiken 1870-1877 / Band 2 Kritiken 1878-1882 / Band 3 Kritiken 1883-1894 und weitere Texte / Band 4 Kommentar. Berlin: Aufbau 2018. – Ganzleinen mit Schutzumschlag, 3.104 Seiten, 180,-€, ISBN: 978-3-351-03737-6.

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