Die Kreiskalender Ostprignitz-Ruppin von Peter Pusch bergen eine Vielzahl an aufschlussreichen Informationen. Bei Recherchen zur Neuruppiner Stadtgeschichte kamen mir in der Ausgabe fĂŒr 2003 einige Vermerke zu Fontane-Ereignissen wĂ€hrend der DDR-Zeit unter. Peter Pusch hatte sie mit anderen Begebenheiten zu einer Neuruppin-Chronik von 1970 bis 1990 zusammengestellt. Als Quelle nutzte er u. a. die MĂ€rkische Volksstimme, die regionale Tageszeitung zwischen 1946 und 1990, auf deren letzter Seite immer die Lokalnachrichten abgedruckt waren.
Mir stellte sich spontan die Frage, welches VerhĂ€ltnis die Stadt Neuruppin und die Neuruppiner:innen zu ihrem berĂŒhmten Sohn in der Zeit des real existierenden Sozialismus hatten. Wurde er geehrt? Von wem und wie? Gab es Orte, GebĂ€ude oder Einrichtungen, die nach ihm benannt waren oder wurden? Was war fĂŒr eine Tageszeitung, die als Organ der SED erschien, im Zusammenhang mit Fontane wert, berichtet zu werden? Fragen ĂŒber Fragen. Die Idee wurde geboren, in loser, nicht-chronologischer Reihenfolge hier im Blog eine kleine Reihe zu beginnen, in der ich solche Zeitungsmeldungen genauer unter die Lupe nehme.
Leider ist es wegen der BeschrĂ€nkungen durch die Pandemie nicht möglich gewesen, die MĂ€rkische Volksstimme im Kreisarchiv Ostprignitz-Ruppin im Original einzusehen. Da blutet das Historikerinnen-Herz, aber darum schert sich das Coronavirus SARS-CoV-2 recht wenig… Ich muss also auf den Vermerk im Kreiskalender zurĂŒckgreifen.
ThÀlmann statt Fontane
Im Jahr 1970 meldete die MĂ€rkische Volksstimme, dass die EOS (Erweiterte Oberschule, Abschluss Abitur) Fontane mit Beginn des neuen Schuljahres EOS Ernst ThĂ€lmann heiĂen werde. Die Umbenennung erfolgte im Zusammenhang mit dem Umzug der EOS in ein neu erbautes Schulhaus an der Gerhart-Hauptmann-StraĂe. Der Name Fontane habe nicht mehr den âAnforderungen einer EOS mit Abiturstufeâ (zit. nach Peter Pusch: Kreiskalender OPR, 2003, S. 177.) genĂŒgt. Offenbar erschien den ZustĂ€ndigen der Name des berĂŒhmten Kommunisten, der in der DDR als Vorbild im antifaschistischen Kampf gegen Hitler verehrt wurde, geeigneter.
Fontane-Schule hieĂen dann zunĂ€chst die im Alten Gymnasium verbleibenden neunten und zehnten Klassen. 1972 zogen sie als POS (Polytechnische Oberschule, Abschluss nach der 10. Klasse) Fontane zusammen mit der POS Karl Liebknecht in ein ebenfalls neu errichtetes GebĂ€ude an der Arthur-Becker-StraĂe im WK II. Der Wohnkomplex II oder WK II, wie die Neuruppiner:innen diesen Teil ihrer Stadt nennen, entstand erst zu DDR-Zeiten. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren wurden dort massenhaft Wohnungen gebaut, denn man plante fĂŒr das Jahr 2000 mit 110.000-120.000 Einwohner:innen (nachlesbar in der Konzeption zum Generalbebauungsplan der Stadt Neuruppin von 1970, die im Brandenburgischen
Landeshauptarchiv lagert â tatsĂ€chlich hat Neuruppin heute zwischen 32.000 und 33.000 Einwohner:innen). Nach der Wende Ă€nderte sich die Schulform mehrmals, inzwischen ist die unter der Neuruppiner SchĂŒlerschaft als âFonteâ bekannte Bildungseinrichtung ein Schulzentrum mit Grund- und Oberschule.
In seinem Buch Neuruppin und Fontane widmet Peter Pusch den Fontane-Schulen in Neuruppin eine ganze Seite (S. 138). Seit 1928 gibt es in der Stadt immer eine Schule, die den Namen des Dichters trÀgt.
Fontane im DDR-Literaturunterricht
Zumindest in Neuruppin, der Geburtsstadt des Dichters, gab es also Schulen, denen Fontane als Namensgeber diente. Aber wurde er auch im Unterricht thematisiert? Was las man von ihm und warum?
Das Bildungswesen war in der DDR, anders als heute, zentral organisiert. ZustĂ€ndig fĂŒr die Erstellung der LehrplĂ€ne, die die Lerninhalte vorgaben, war das Ministerium fĂŒr Volksbildung, das die lĂ€ngste Zeit, nĂ€mlich von 1963-1989, Margot Honecker unterstand. TatsĂ€chlich taucht Fontane in diesen LehrplĂ€nen fĂŒr das Fach Deutsch auf.
Im Lehrplan Deutsche Sprache und Literatur. Teil Lese- und Literaturunterricht. Klasse 6 von 1987 steht unter der Rubrik âGedichteâ Fontanes Ballade John Maynard auf dem Plan (ebd., S. 10). Im Kapitel âInhalt des Unterrichtsâ wird fĂŒr die in der StoffĂŒbersicht vorgegebenen Texte zusammengefasst, hinsichtlich welcher Schwerpunkte sie im Unterricht zu behandeln sind. FĂŒr John Maynard heiĂt die Vorgabe: âDie SchĂŒler erfassen […] die in der Ballade gestaltete Heldentat […] eines Schiffs-Steuermanns […], der sich opfertâ (ebd., S. 26). Die Wörter Heldentat und Heldentum tauchen in dem kurzen Text dreimal auf. Der Schwerpunkt liegt darauf, das âselbstlose Handeln des Steuermannsâ (ebd.) herauszuarbeiten und âdas Motiv vom âbraven Mannâ, der sein Leben gibt, um andere zu rettenâ (ebd.), zu erkennen.
In der 7. und 8. Klasse (Lehrplan, Teil Literaturunterricht, Klasse 7, 1987) bestand die Möglichkeit, dass die SchĂŒler:innen dann gleich noch einmal in den Genuss von Fontane kamen. Seine Texte sollten sie âan das VerstĂ€ndnis bĂŒrgerlich-humanistischer Idealeâ (ebd., S. 6) des 19. Jahrhunderts heranfĂŒhren. FĂŒr die 7. Klasse stand Fontanes ErzĂ€hlung Die Verfolgung auf der Liste der fĂŒr die SchĂŒler:innen empfohlenen BĂŒcher (ebd., S. 45), die aber nicht unbedingt im Unterricht behandelt wurden.
In der 8. Klasse lag es an den Lehrenden, ob sie sich im Themenkomplex âAus der Literatur der Vergangenheitâ (Lehrplan, Teil Literaturunterricht, Klasse 8, 1986) fĂŒr Fontanes Gedicht Die Balinesenfrauen auf Lombok oder Szenen aus Der Biberpelz von Gerhart Hauptmann entschieden (ebd., S. 12). Die Ballade von Fontane sollte den Kindern âals Protest gegen die Unmenschlichkeit imperialistischer Kolonialpolitikâ vorgestellte werden (ebd., S. 35).
Obwohl die LehrplĂ€ne den Lehrer:innen auf den ersten Blick wenig Freiraum in der Auswahl der zu behandelnden Texte lieĂen, gab es in der RealitĂ€t offenbar doch Unterschiede. WĂ€hrend meine Mutter in ihrer Grundschule an der Ostsee nahe Rostock John Maynard auswendig lernen musste, hörte mein Vater in seiner Schule im mecklenburgischen Schwaan nichts von Fontanes Gedichten. DafĂŒr las er in der 9. oder 10. Klasse im Deutschunterricht Fontanes Effi Briest. Dieser Roman findet sich zwar im Lehrplan fĂŒr das Fach Deutsche Sprache und Literatur der Vorbereitungsklassen 9 und 10 zum Besuch der Erweiterten Oberschule von 1967 in einer âZusammenstellung empfehlenswerter BĂŒcher fĂŒr die Vorbereitungsklassen 9 und 10â (ebd., S. 151), aber eigentlich war er erst als LektĂŒre in der EOS vorgesehen (vgl. Lehrplan fĂŒr Deutsche Sprache und Literatur, Erweiterte Oberschule, Klassen 11 und 12, 1972, S.52).
Effi Briest wurde in den Themenkomplex II âGrundfunktionen realistischer Literatur in der kapitalistischen Gesellschaft von den AnfĂ€ngen der Arbeiterbewegung bis zur GroĂen Sozialistischen Oktoberrevolutionâ eingeordnet (vgl. ebd., S. 49). Ziel dieses Unterrichtsblocks war es, dass die SchĂŒler:innen âals Wesenszug realistischer Literatur in der Klassengesellschaft vor allem die kĂŒnstlerische Kritik an der Ausbeuterordnung […] und [Gemeinsamkeiten] und qualitative Unterschiede zwischen der fortschrittlichen bĂŒrgerlichen und der sich entfaltenden sozialistischen Literatur begreifen, die sich besonders im Menschenbild ausprĂ€genâ (ebd.). Dazu sollten auch marxistisch-leninistische Texte gelesen werden, in denen es um die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft geht (vgl. ebd., S. 50).
So stand bei der LektĂŒre von Fontanes Roman vor allem die Gesellschaftskritik im Vordergrund. Effi wurde als Opfer dargestellt und Innstetten als sich der gesellschaftlichen Konvention willenlos unterwerfend und emotionslos. Ein zweiter Schwerpunkt lag auf der Figur Roswitha, deren âmoralische Ăberlegenheit [… und] echte[…] Empfindungenâ (ebd. S. 56) herausgearbeitet werden sollten.
In ihr Urteil ĂŒber Fontane und sein Werk sollten die SchĂŒler:innen auĂerdem ausgesuchte Briefstellen mit einbeziehen. Diese waren im Lesebuch (siehe Foto, Literatur 11/2, Verlag Volk und Wissen, leider fehlt die Seite mit dem Impressum, wahrscheinlich 1980) abgedruckt. Von den vier TextauszĂŒgen sind drei aus Briefen von 1896 und 1897 an James Morris (Londoner Arzt) und Georg FriedlĂ€nder, beides Freunde Fontanes, in denen dieser Kritik u. a. am Adel, am Kaiser und an der Kolonialpolitik ĂŒbt. Die vierte Textstelle stammt aus einem Brief von 1878 an seine Frau, Emilie, in dem er die Ideen der Arbeiter als zum Teil berechtigt und sie selbst dem Adel und dem BĂŒrgerstand als ebenbĂŒrtig bezeichnet. (Vgl. ebd. S. 64-66, siehe Foto)
Die Texte Fontanes wurden also nach dem ideologisch passenden Inhalt ausgesucht, denn der (Literatur)unterricht und die LektĂŒre der ausgewĂ€hlten Texte, dienten dem Ziel âdie sozialistischen GrundĂŒberzeugungen der SchĂŒler und ihre klassenmĂ€Ăige Einstellung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik weiterzuentwickeln und zu festigenâ (Lehrplan fĂŒr Deutsche Sprache und Literatur, Erweiterte Oberschule, Klassen 11 und 12, 1972, S. 7). Wie viel Ideologie im Unterricht eine Rolle spielte und welche Texte tatsĂ€chlich gelesen wurden, wird in Neuruppin, wie anderswo auch, aber letzendlich von den Lehrer:innen abhĂ€ngig gewesen sein. Einen kurzen Einblick in ihren Unterricht als Lehrerin zu DDR-Zeiten in Neuruppin gibt Uta Land ĂŒbrigens in dem schon erwĂ€hnten Buch Neuruppin und Fontane von Peter Pusch:
Auf die erste der Balladen [BrĂŒck am Tay] habe ich auch immer bei der Behandlung von Shakespeares âMacbethâ in Klasse 9 bezug [sic] genommen. Die Hexenszenen des EnglĂ€nders waren offenbar Vorbild fĂŒr den mĂ€rkischen Dichter.
[…]
Die âEffiâ war jedenfalls an allen Erweiterten Oberschulen und in der Berufsausbildung mit Abitur vorhanden. Fragt man jedoch Erwachsene nach dieser JugendpflichtlektĂŒre, so erhĂ€lt man meist ein Achselzucken. Die Jungen und MĂ€dchen, die damals vor mir saĂen, konnten emotional das Schicksal Effis nicht nachvollziehen, weil fĂŒr sie ein von Eltern und Ehemann unabhĂ€ngiges und selbstbestimmtes Leben von jungen Frauen, die auch einen Beruf ergriffen, eine SelbstverstĂ€ndlichkeit war. Dass Instetten ebenso tragisch in den âGötzendienstâ des ihn âtyrannisierenden Gesellschafts-Etwasâ verstrickt ist, erschloss sich ihnen erst, wenn es uns Lehrern gelang, die hohen literaturtheoretischen AnsprĂŒche unseres Lehrplans zu erfĂŒllen. (Ebd. S. 139)